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Siebenschön   

Liebe und Glück eines Waisenmädchens

Original: Sedmikráska

von Jaroslav Durých, geb. 2. 12. 1886, gest. 7. 4. 1962

© 1992 Jaroslav Durých (dĕdicové)

übersetzt von Alfred Gessl (Österreich), geb. 2. 12. 1928, © 2017

 

Vorwort des Übersetzers

Kurze Zeit, nachdem der „Eiserne Vorhang“ fiel, nahm ich an einem Tschechisch-Kurs teil, um mich verständigen zu können, wenn ich über die nur etwa fünfzig Kilometer entfernte Grenze das Nachbarland besuchen würde. Während des Kurses wurde ich auf ein Buch von Jaroslav Durych mit dem Titel „Sedmikráska“ (Gänseblümchen) aufmerksam gemacht, das 1925 erstmals erschien und 1992 wieder aufgelegt wurde und das als eines der schönsten Werke der tschechischen Literatur gilt. Ich beschaffte mir dieses Buch.

In der Folge zeigte sich, dass ich nur wenige Gelegenheiten fand, nach Tschechien zu fahren. Darum hörte ich auf, Tschechisch zu lernen und beschäftigte mich mit russischen Dichtern, vor allem mit Turgenev. Ich las unter anderem mehrmals die „Erste Liebe“ von Turgenev und war begeistert von dieser schönen Liebesgeschichte. Ich kann verstehen, dass Tolstoi einmal erwähnte, dass er dieses Buch immer wieder lese. Auch „Sedmikráska“ ist das Werk eines Dichters von Weltformat, von dem Thomas Mann einmal im Zusammenhang mit Durychs Wallensteintrilogie schrieb: „Ich glaube, dass ich seit „Krieg und Frieden“, seit dem „Witiko“ einen historischen Roman nicht mehr mit solcher Hingegebenheit gelesen habe. Was zum mindesten seine Schlachtschilderungen betrifft (Lützen), so scheinen sie mir den Tolstoi’schen schlechthin ebenbürtig. Aber auch sonst, welche Kraft und dunkel glühende Farbigkeit! Ich glaube, dass der Name dieses Autors ein Weltname sein wird.“ (Zitiert aus einem Brief an Durychs Übersetzer Pavel Eisner vom 12.12.1933)

Das Buch "Sedmikráska" lag viele Jahre ungelesen in meinem Bücherregal. Als ich etwa 85 Jahre alt war, wurde mir bewusst, dass ich die Sedmikráska übersetzen musste, wenn ich den Inhalt zu Lebzeiten noch kennen lernen wollte. Da das Internet nun genügend Hilfestellung für eine Übersetzung bietet, machte ich mich an die Arbeit.

Ich wollte eigentlich nur wissen, was in dem Buche steht, weitere Mühen mit dem Ziel einer Veröffentlichung der Übersetzung waren nicht geplant. Da wurde ich zufällig auf eine frappierende Synchronizität aufmerksam: Ich war auf den Tag genau dreimal 14 Jahre nach dem Geburtstag Durychs (2.12.1886) geboren worden (2.12.1928). Das ist nicht irgendein Zufall, sondern ein äußerst ungewöhnlicher, also eine echte Synchronizität nach C.G.Jung. Diese Synchronizität war nicht in dieser Welt entstanden, sondern schon vorher, denn am Tag meiner Geburt war die Synchronizität fix und fertig konstelliert. Aber niemand wusste davon, bis sie mir nach 85 Jahren zufällig zur Kenntnis kam. Verstärkt wird die Sinnhaftigkeit dieser Synchronizität dadurch, dass die Zahl 14 seit der ägyptischen und israelitischen Mythologie als eine Art archetypische Legitimation gilt, besonders in der Genealogie Christi am Beginn des Matthäus-Evangeliums. Diese Genealogie ist ja nicht als historisch anerkannt, sondern muss als archetypisch konstelliert betrachtet werden.

Irgendein logischer oder ursächlicher Zusammenhang zwischen den beiden Geburtstagen besteht nicht. Es muss also ein irrationaler Sinngehalt gesucht werden. Ich kann nur einen einzigen Sinn finden: ich erblicke in dieser Synchronizität den unleugbaren Auftrag, diesem Meisterwerk der tschechischen Literatur den Weg in den westeuropäischen Kulturkreis zu ebnen. Bisher wurde die Sedmikráska nur in slawische Sprachen übersetzt: Anfang der Dreißigerjahre ins Slowenische und Serbokroatische und im Jahre 2006 ins Russische von einem Moskauer Universitätsprofessor für Bohemistik für seine Studenten.

Obwohl mir mein Alter kaum mehr zeitliche Perspektiven eröffnet, werde ich den Auftrag ernst nehmen und die Übersetzung immer wieder durcharbeiten, so lang mir noch ein Rest an Arbeitsfähigkeit gegönnt ist. Da sich offensichtlich schon seit fast einem Jahrhundert kein Verlag einen Gewinn versprach (die Sedmikráska ist erstmals 1925 erschienen, aber seither noch in keine nicht-slawische Sprache übersetzt worden) stelle ich die Sedmikráska nun in meine private Homepage. Vielleicht findet sie die eine oder andere Leserin oder einen Leser.

 

 

 

 

Kapitel I

 

Sie saß vor dem Spiegel und hatte den Schoß schon voll mit Dingen, von denen sie nicht recht wusste, wozu sie dienen. Die geöffnete Lade des Tischchens stützte sich auf ihr Knie und knarrte mitsamt dem Tischchen bei jeder ihrer Bewegungen. Das Knarren des Tischchens gefiel ihr. Die einst schöne Einlegearbeit war abgeblättert und abgenützt; die wackeligen Tischbeine verlangten äußerste Vorsicht. Die Spuren von heißen Tassen und sonderbare fettige Flecken konnten den einst schönen, tiefen Glanz des Holzes nur dämpfen, aber nicht auslöschen. Hinten an der Wand war das Tischchen notdürftig mit einem Haken befestigt, dessen Spitze sich am Mauerziegel verbogen hatte; der Putz bröckelte ab und bei der kleinsten Bewegung des Tischchens erklang ein warnendes Rieseln von Sand und Rost. Der Fuß des Schwenkspiegels war auf der Tischplatte angeschraubt, doch das alte Holz war so ausgetrocknet, dass der Spiegel schwankte wie ein allein stehender Baum. Das alles hatte seinen eigenen Reiz. Eines der geschwungenen Beine des Stuhls, auf dem sie saß, war gespalten, die vergilbte Lehne abgewetzt und das Rohrgeflecht des Sitzes aufgerissen und mit Nägeln befestigt, die ein wenig herausstanden, als wollten sie verschmitzt am dünnen Stoff des Kleides und am Spitzensaum der Schürze zupfen.

Allerlei Krimskrams war in der Lade. Zerbrochene Kämme, Brenneisen für Dauerwellen, Umschläge alter Briefe, Knöpfe, ausgetrocknete Salben, schmutzige Tassen, verwelkte und künstliche Blumen, Glasperlen, abgerissene Schnallen, Spitzenmuster, einzelne Handschuhe, ein Alaunstein, Talglichter, ein altes zerrissenes Modeheft und Kotilionen (scherzhafte Geschenkartikel, die bei einem Kotillon, einem aus Frankreich stammenden Gesellschaftstanz, verlost wurden – Anm. d. Übers. ). Doch im hintersten Winkel der Lade, wohin sie noch nie gegriffen hatte, ertastete sie eine seltsam geformte Schachtel. Sie zog sie heraus und betrachtete sie. Sie konnte sich nicht denken, was sie enthielt, und runzelte neugierig die Stirn.

Entschlossen öffnete sie die Schachtel, sah, was sie enthielt, wurde aber nicht klug daraus. Irgendein Stein. Wozu braucht man den? Sie roch daran, hauchte ihn an und wagte sogar, daran zu lecken. Sie setzte eine würdig-ernste Miene auf und strich prüfend über die Zunge darüber. Der Finger rötete sich leicht.

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie im Zimmer allein ist. Im Nu ergriff sie den Rand des Spiegels, hob den Stein zum Gesicht und neigte sich zum Spiegel. Aber ebenso schnell setzte sie sich wieder. Der Spiegel war mit dem Glas zur Wand gedreht. Sie hätte ihn in einer Sekunde mit dem Finger herumdrehen und mit dem Stein spielerisch über ihr Gesicht streichen können, aber schon als sie auf den Stuhl zurücksank, hatte sie keine Lust mehr, das Spiegelglas zum Zimmer zu drehen, und sie zog ihre Hand vom Spiegel zurück. Sie erinnerte sich, wie sie ihn unlängst selbst mit dem Glas zur Wand gedreht hatte. Sie hatte sich über ihn geärgert und wollte sich nicht mehr in ihm sehen. Sie kämmte ihr Haar auf einfache Weise und hatte den Spiegel schon lange nicht mehr gebraucht. Ihre Stirn war noch umwölkt, doch Gesicht und Wangen wehrten sich schon vergeblich gegen ein Lachen.

Vielleicht wäre sie mit der wurmstichigen Rückseite des Schwenkspiegels zufrieden gewesen wie mit einem magischen Spiegel, vielleicht hätte sie doch noch den Spiegel mit dem Glas zu sich gedreht, aber die Tür mit der kaputten Klinke schob sich vor unhörbaren Filzpantoffeln auf und eine Stimme erscholl:

„Gretl ist da, um dich abzuholen, komm‘!“

Sie fühlte sich ertappt. Die Tante hat sicher gesehen, dass sie müßig vor dem Spiegel sitzt und neugierig in der Lade kramt, obwohl sie die zerschlissenen Vorhänge an den beiden Fenstern ausbessern sollte; die Tante hielt aber ihren Schritt an und trat nicht vollends aus dem Gang ins Zimmer herein, um zu sehen, was sie da in der Hand hält. Margarete nannte sie heute Gretl. Schnell schob sie die Lade zu – vermutend, dass sie das, was sie jetzt nicht erhielt, von der Tante später einmal erhalten wird – und ging auf den Gang hinaus, denn das Zimmerchen hatte nur eine Tür zum Gang und ein Fenster zum Hof. Die Tante ging in die Küche. Margarete wartete bereits am Gang, um zu ihr zu laufen, sobald die Tante weg war, denn im Gang, der mit Schränken, Wannen und Eimern vollgestopft war, konnten drei Leute nicht aneinander vorbei gehen.

„Komm‘ mit mir in die Stadt! Mutti geht es schlecht und ich muss selbst einkaufen. Mach einen Spaziergang, du sitzt ja ohnedies den ganzen Tag. Die Tante hat es dir schon erlaubt, also komm!“

„Warte, ich nehm‘ mir einen Hut!“

„Einen Hut? Lass den Hut zu Hause, ich geh auch nur so, die Leute kennen dich ja!“

Es erschien ihr bedenklich, gegen ihre Gewohnheit ohne Hut in die Stadt zu gehen, wenngleich ihr Hut schon lange nicht mehr so aussah wie früher. Sie sah Margarete an und während sie neben den Waschtrögen stand, die an die Wand gelehnt waren, erinnerte sie sich blitzschnell an alles, was nur erinnerlich war. Durch die halb geöffnete Haustür drang die vorabendliche Dämmerung in den Gang und verdichtete sich zu einem Halbdunkel, in dem alles von einem schmerzlich-süßen Zauber durchdrungen war.

Margarete war mit der Selbstsicherheit ihrer achtzehn Jahre schon im Begriff hinauszugehen. Über die Schultern hatte sie ein mit Fransen verziertes Tuch geworfen, vom Ellbogen ihres nackten Armes baumelte eine geflochtene Basttasche; ihre Arme waren entblößt, als wäre sie gerade vom Bodenwaschen aufgestanden; sie trug eine getupfte Schürze. Die Tante hatte sie heute Gretl genannt. Gretl ist gekommen, um sie abzuholen, und die Tante hat es erlaubt.

Bisher war sie ohne Hut nie weiter gegangen als in den Laden an der Straßenecke, zum nahegelegenen Gastwirt oder in die Wäscherei, um die Wäsche bügeln zu lassen. Selbst wenn sie nur auf einen Sprung allein in den nahegelegenen Park ohne Hut gehen wollte, einfach um spazieren zu gehen, durfte sie nicht. Und heute sollte sie mit Margarete, oder Gretl, ohne Hut bis in die Stadt gehen. Sie errötete.

„So komm doch!“, sagte Gretl, hängte die Tasche über den anderen Arm und zog sie aus dem Hausflur. „Vorsicht, fall‘ nicht hin, hier sind Stufen!“

Im ersten Augenblick erkannte sie die Welt um sich herum nicht wieder. Gretl ergriff ihre Hand, drückte sie an die Brust und zog ihre Freundin schnell mit sich. Solange sie in der ersten Straße gingen, von wo aus ihr Häuschen noch zu sehen war, ging es gut. Bis zur Straßenecke begegnete ihnen zufällig niemand. Dort war ein alter Mann, der sie sonderbar ansah. Es schien ihr, dass die Leute sich wundern werden, dass Margarete sie am Arm führt.

Sie hätte gern einen besonderen Gesichtsausdruck angenommen oder ihren Gang geändert, aber sie wusste nicht, wie.

Sie kamen zur Parkallee.

Noch nie erschienen die gestutzten Äste und Zweige der Kronen so lebhaft und vorwitzig wie jetzt. Sie erschauderte.

„Ist dir kalt?“, fragte Gretl mit ihrer herzlichen Mädchenstimme, die allzu schnell im regelmäßigen Knirschen des feinen Sandes unter ihren Schritten verklang.

„Nein. Aber ich bin schon lange nicht mehr draußen gewesen. “

„Was machst du die ganze Zeit?“

„Ich helfe der Tante und warte auf eine Stelle,“ antwortete sie verlegen.

„Und hast du eine?“

„Nein. “

„Wie alt bist du?“

„Sechzehn. “

„Du bist nun schon seit Juni mit der Schule fertig und zu Hause, gelt, und zu Hause gefällt es dir nicht! Jetzt ist schon November, fünf Monate, die Zeit vergeht. Ist eine Stelle so schwer zu finden?“

„Ich bekäme schon eine, aber zuerst müsste ich drei Monate ohne Lohn arbeiten. Und dann würde ich so wenig bekommen, dass ich mir dafür kaum Schuhe kaufen könnte. “

Kaum hatte sie das gesagt, erschrak sie über ihre Unbesonnenheit, aber Margarete sagte mit einem Lächeln, das auch aus ihren Worten zu hören war:

„Mach dir nichts draus, solche Sorgen hatten schon viele. Du möchtest in ein Büro, nicht wahr, aber ich würde dir das nicht wünschen, wirklich nicht, warum könnte ich dir nicht sagen. Du wirst ja selbst sehen, warum!“

Aus Margaretes Stimme klang rückhaltlose Offenheit. Wie sicher sie auftrat! Sie führte sie wie ein Vormund, und obwohl zwischen ihnen nur ein Altersunterschied von zwei Jahren lag, empfand sie plötzlich ihr gegenüber eine Unterlegenheit des Denkens und Willens. Trotz erwachte in ihr, aber er hätte sich in mädchenhaft-fügsamer Zutraulichkeit aufgelöst, wenn sie nicht in diesem Augenblick am Ende des Parks angelangt und auf die Straße hinausgetreten wären, wo der Nachtwächter gerade die Gaslaternen anzündete.

Jetzt gelangte sie an die Schnittstelle zweier Welten. Hinter ihr der graue Park mit dem Geheimnis der Kindheit und vor ihr die Straße, abendlich, herbstlich, gleichsam eine fabriksmäßige Folterkammer mit einem gefährlichen Wirbel vorbeihastender Menschen. Jetzt erkennt man sie. Jetzt sehen die Leute, dass sie den Hut verloren hatte, dass man sie hinausgejagt hatte nur mit einer weißen Schürze, dass Gretl, die Tochter der Greißlerin, sich ihrer angenommen hat, dass man sie nirgends aufnehmen will, dass sie keine Schülerin mehr ist, sondern ein armes Mädchen, das eine Stelle als Dienstmädchen sucht und keine findet. Sie hätte am liebsten auf dem Absatz kehrt gemacht, um in die Dunkelheit des Parks zurück zu fliehn, aber Margarete hielt sie fest.

Sie erinnerte sich an eine Mitschülerin, die aus der Schule ausgeschlossen wurde. Sie meinte, dass die Ausgeschlossene vor Scham sterben müsste. Aber später begegnete sie ihr auf der Straße und es war ihr nichts anzusehen; sie sah ruhig und fröhlich aus, zufriedener als damals, als sie in Geographie schwierige Dinge über Wirtschaftsstandorte lernten. Diese Mitschülerin war offensichtlich nicht in Nöten.

Sie begegnete Menschen; Lastwagen blockierten die Straße, Träger luden auf den Gehsteig schwere Kisten ab, aus Gasthäusern rollten sie leere Fässer, geöffnete und mit Jalousien überdachte Fenster von Auslagen, die von den Geschäftsleuten für die neue Saison geändert wurden, behinderten die Fußgänger, Rauchfangkehrer und Briefträger gingen von Haus zu Haus, Katzen miauten an den Toren, Soldaten gafften an den Ecken, in den Geschäften herrschte reges Leben. Viele Leute, die einander unbekannt und gleichgültig waren, eilten in beide Richtungen. An der Ecke des Marktplatzes zuckte sie zusammen; sie erblickte ihren einstigen Lehrer, der mit Frau und Kindern spazierenging, aber er bemerkte sie nicht und ging vorbei. Ihr Herz schlug lange, als wäre sie beim Abschreiben einer Aufgabe erwischt worden.

„Ich muss für Mama einen Emmentalerkäse kaufen“, sagte Gretl und zog sie in einen Feinkostladen.

In dem beleuchteten und vollen Laden wurde sie ruhiger. Das war ein geschützter Ort. Sie standen erst in der dritten Reihe, betrachteten die aufgehängten Salamistangen, die Schüsseln, Schalen, Körbe und Säcke, die müden und trotzdem aufmerksamen und engagierten Verkäufer, die hin und her liefen, hinaufstiegen, einander auswichen, freundlich lächelnd redeten und mit behutsamer Gewissenhaftigkeit teure und billige Waren einwickelten, freundlich mit den Kunden und hart zu sich selbst. Aber diese Härte erschien hier als Brüderlichkeit und Fairness, denn sie halfen einander, ihre Arbeit und ihr Leben zu bewältigen. Sie betrachtete das, als hätte sie nie zuvor Arbeit gesehen, als hätte sie sie plötzlich entdeckt und sollte nun mit ihrem ganzen Mut beginnen, sie zu lernen.

Dann sah sie seitwärts zur Auslage hin. Durch das Glas waren auf der Straße einige Leute zu sehen, die sich die Waren ansahen. Sie spürte einen Blick auf sich ruhen: es war ein Blick vom Gehsteig her. Irgendein Jüngling stand dort und statt sich an dem Anblick von Wurst und Schokolade zu ergötzen, sah er in den Laden herein. Margarete stand neben ihr und ein wenig vor ihr. Vielleicht blickte er auf Margarete. Aber sie wusste das nicht sicher. Das schien ihr merkwürdig. Er konnte sich einfache und auch feinere Leckerbissen ansehen oder die Käufer im Laden beneiden, aber es war zu spüren, dass er etwas anderes, Seltsames suchte, als suchte er etwas, das sich zwischen den Leuten verbarg, und als wäre der ganze Laden mit all den Leuten eigentlich hinderlich. Er stand im Zwielicht und im Glas verschwamm sein Bild wie in tiefem Wasser. Dass sie das bemerkte, gefiel ihr, aber sonst nichts. Gern hätte sie gewusst, was er suchte, aber nur, wenn sie das selbst irgendwo in geheimer Vorahnung früher entdeckt hätte als er. Er konnte ihr nicht gefallen, denn noch niemand hatte ihr gefallen und im Dunkel der Straße konnte sie ihn nicht deutlich sehen. Es schien ihr, dass vielleicht in einem Winkel des Ladens hinter einem Sack eine seltsame Blume blüht; sie suchte sie, fand sie aber nicht, und beneidete den Unbekannten, der das sieht, was sie nicht sah. Aber jetzt gingen sie hinaus.

Es begann leicht zu regnen, die Tropfen waren kühl. Es waren vieler Leute Augen zu sehen, vieler Leute Schritte zu hören. Es war Samstagabend. Füße bewegten sich wie Automaten, hinter ihnen, vor ihnen, neben ihnen und ihnen entgegen. Manchmal stießen sie zusammen, manchmal berührte ein älterer, manchmal ein jüngerer Mann die Mädchen am Ärmel. Aber nach einer Weile schien es, dass ein Paar Füße hinter ihnen ging wie eine Begleitung, zuerst wie absichtslos, dann aber hartnäckig. Sie blieben vor der Auslage einer Drogerie stehen und betrachteten einen schaukelnden Papierchinesen. Die begleitenden Schritte mussten weiter, wie eine nicht abgeschaltete Maschine. Ihre Gesichter hatten sie im Schatten, aber unwillkürlich drehten sie sich so, dass sie von ihm nicht gesehen wurden, selbst aber gut beobachten konnten.

Margarete war größer und mit ihren achtzehn Jahren schon in voller Blüte. Der junge Mann sah sie an, zuerst verstohlen, dann offen. Beide hielten ihren Blick aufrecht, ohne die Augen niederzuschlagen, aber auch ohne zu lächeln. Sie fühlten, dass er jetzt sucht. Als er den Kopf ihr zuwandte, musste sie aufblicken.  Da schlug er seine Augen nieder und ging weiter. Sie beobachteten ihn, wie er sich umblickte. Obgleich das eine beliebige Begegnung war, nutzlos, vergeblich und lächerlich, so wehte doch der Hauch eines geheimnisvollen Schicksals, wenn auch nur flüchtig, durch die Seele. Wer kann ahnen, was dem Menschen begegnet und was er verliert, ohne es zu wissen. Da es aber schwer ist, Rätsel zu lösen, und alltägliche Rätsel, wie diese Begegnung, eher töricht als ernsthaft zu sein pflegen, grinste Margarete und zog sie weiter.

An der Ecke war ein Hotel. Da es bereits regnete, waren der Portier und der Hausdiener verschwunden. Margarete überlegte eine Weile, dann zog sie sie mit sich.

„Wohin bringst du mich da?“

„Komm‘ doch mit zu Frau Kutin! Wir halten uns bestimmt nicht lange auf und du wirst nicht im Regen stehen; sie hätte dich gern gesehen und ich muss einen Sprung bei ihr vorbeikommen!“

Sie führte sie über eine Treppe, die weiß ausgemalt und mit einem abgetretenen Teppich belegt war. Die Glühstrümpfe der Gaslaternen waren zerbrochen und verrusst und gaben nur ein mattes Licht. Im ersten Stock begegneten sie einem beleibten Mann mit Doppelkinn, im schwarzen Anzug, ohne Hut; Margarete grüßte ihn respektvoll. Vom Gang her blickten ihnen die nummerierten Zimmertüren düster entgegen, und die Luft drückte sich dumpf und schwer in die finsteren Ecken. Aus dem Erdgeschoß roch es nach Küche und Ausschank. Sie traten auf den offenen Gang hinaus. Im Hof wurde es schon dunkel. Das Hotel stand auf einem Abhang, die Dächer der anderen Häuser lagen niedriger und glänzten regennass in der Dunkelheit, eine an Krankenhaus und Gefängnis erinnernde Atmosphäre kroch bedrückend von allen Seiten heran. Sie fröstelte. Sie gingen über den offenen Gang, der so unsicher schien, als könnte er jeden Augenblick abbrechen. Sie läuteten bei einer Tür und eine ältere Frau rief: „Herein!“

„Hier bringe ich sie Ihnen also,“ rief Margarete.

Die Frau lud sie ins Wohnzimmer ein, und während sie mit Margarete alltägliche Worte wechselte, musterte sie schnell und scharf das vorgestellte Mädchen. Ihr Blick wurde immer härter.

„Setzt Euch!“, sagte sie und setzte eine ernste Miene auf. Sie war nicht alt, auch nicht verwelkt; in ihrer scharfen Stimme war manchmal sogar ein Anflug von Mitgefühl zu hören. Sie konnte auch freundlich blicken.

„Wie alt ist sie?“, fragte sie Margarete.

„Sechzehn.“

„Sechzehn, hm! Ich habe schon Sechzehnjährige gehabt, aber die waren kräftig, doch das ist ja noch ein Kind.“

Ihr schnürte es die Kehle zu.

„Ich muss noch mit dem alten Herrn sprechen. Es wäre besser, wenn sie morgen wieder käme, vielleicht mit ihrer Mutter.“

„Gut, sie wird also kommen!“, sagte Margarete und stand auf.

Ihr wuchs alles über den Kopf. Die ganze Atmosphäre dieses Hotels erfüllte sie mit Angst. Die Frau erriet ihre Angst, sah sie an und wurde von Erinnerungen an ihre eigene Kindheit angerührt. Sie sah ihren flehenden Blick und fühlte den Druck kindlicher, schüchtern zurückgehaltener Tränen, ausgelöst durch die bisher ungewohnte Rauheit des Lebens. Sie ging zu ihr und streichelte sie.

„Nun, fürchte dich nicht,“ sagte sie und bemühte sich, ihr ein Lächeln zu entlocken.

Aber das Mädchen erschrak und zuckte mit dem Kopf zurück. Es spürte in der Weichheit der streichelnden Hand eine entsetzliche Verwelktheit und erblickte in den Augen der alten Frau den grünlichen Schimmer grenzenloser Verachtung einer abgestorbenen Seele in einem abgestorbenen Leib. Sie verstand das nicht, aber sie fühlte es.

Sie verabschiedeten sich und eilten die Treppe hinunter. Es regnete. Ein Weilchen standen sie in der Durchfahrt, dann breitete Margarete ihr Schultertuch aus und bedeckte sie und sich selbst.

„Komm, wenigstens erkennt dich so niemand!“

Der Regen rauschte. In Dunkelheit und Regen lässt sich die aus der Trauer geborene Angst gut verbergen. Sie gingen hinaus. Die Straßen hatten sich geleert. Sie bogen um die Ecke. Der Regen schien die Tritte der Menschen vom Pflaster abzuwaschen. Die Häuser waren umbrodelt von Dunkelheit, Nässe und Kunstlicht.

Schritte folgten ihnen. Als es sicher war, dass sie ihnen galten, blickte sich Margarete um, verlangsamte den Schritt und hielt auch sie zurück. Sie blickte sich noch einmal um und hielt dabei ihre Hand unter dem Schultertuch. Ihr Schritt war fest und beschwingt, an ihren Körper konnte sie sich anlehnen wie an einen Apfelbaum. Als sie sich umblickte, fiel das Licht der Gaslaterne auf ihren Hals, soweit ihn das Schultertuch nicht verdeckte, und lebhafte Jugend leuchtete aus ihrem Gesicht und aus den tiefdunklen Augen. Ein Lächeln umspielte ihren Mund, der vor lauter Gesundheit und Kraft noch schöner wirkte.

„Hinter dir geht etwas, blick dich um!“

„Lass mich in Ruhe, Margarete! Du wirst noch ein Unglück heraufbeschwören!“

Erst jetzt erinnerte sie sich an alles mit jähem und glühendem Entsetzen. Sie war aus dem Käfig eines schrecklichen und unbekannten Monsters entflohen; sie wusste nicht einmal, welcher Art es war. Aber sie hatte das Gefühl, dass sie noch nicht in Sicherheit war; vielleicht hatte sie vergessen, hinter sich die Tür des Käfigs zu schließen und irgendjemand treibt sie auf einem Umweg wieder dort hinein.

Jetzt erst erkannte sie, was Armut ist.

Was wollten diese Schritte hinter ihnen? Wer kann in diesem Augenblick auf sie neugierig sein oder etwas von ihr wollen? Sie selbst hatte ja nichts und gerade jetzt wurde ihr alles genommen, was sie zwar nicht hatte, aber von dem sie angenommen hatte, dass sie es hat, nämlich ein Anrecht auf Freude und auf einen Frühling des Lebens.

Aber irgendjemand ging stetig mit verbissener Lässigkeit durch den Regen, absichtslos, als ob es ihm nicht ankäme auf Erfolg oder Misserfolg, ohne Eile. Margarete wurde nachdenklich und hörte auf, sich unbekümmert umzusehen.

“Schau ihn an!” sagte sie mit hörbarem Flüstern und veranlasste sie, stehen zu bleiben.

Sie blickte aus den Augenwinkeln nach hinten und erkannte, dass es derselbe war, der sie im Laden beobachtet hatte und der ihnen auf dem Weg zum Hotel nachgegangen war. Margarete drehte sich zusammen mit ihr unter dem Schultertuch, das sie beide bedeckte, um, so dass sich alle drei ins Gesicht sahen.

„Gib acht, was du tust!“ schimpfte sie, aber sie musste lachen, weil auch Margarete laut auflachte. Das war fröhlich und herzlich. Die Scheu war überwunden und sie schauten sich befreit in die Augen. Das Tuch war ihnen vom Kopf auf die Schultern geglitten.

Sie sah, dass er tatsächlich sie ansah; dass er sie zwar noch einen Augenblick aufmerksam verglich, aber dann sein Blick keinen Irrtum mehr zuließ. Aber was nun? Es regnet, es ist Zeit heimzugehen, das Schultertuch ist durchnässt, und in Margaretes Tasche regnet es hinein, jetzt kann man keinen Spaziergang machen, außer man ist verrückt. Außerdem wird ihr nach einer Weile ganz anders. Eine Erinnerung löschte plötzlich den Glanz in ihren Augen, die Brauen senkten sich und die Flügel des Lächelns schlossen sich wie Schmetterlingsflügel im Regen.

Wie wenn das ihr Spiegelbild wäre, so schnell änderten sich Gesicht und Blick des unbekannten Mannes mit dem ihren.

„Er hat dich schon gesehen, also gehen wir,“ sagte Margarete und zog das Schultertuch wieder hinauf.

„Ich habe gesehen und danke vielmals,“ antwortete der Mann, „und ich werde nicht mehr vergessen."

„Damit Sie uns dann nicht verwechseln, schaun Sie sie noch einmal an,“ rief Margarete neckend.

Sie zog zwar Margarete fort, aber diese rührte sich nicht vom Fleck, bis er sich vorbeugte und dem Mädchen so ins Gesicht sah, dass es sich mit flammender Röte überzog. Aber es war zu sehen, dass auch ihm selbst nicht leicht war. Ein scheues Lächeln ließ die weißen Mädchenzähne in ihrem vollen Glanz erstrahlen. Zwei Ertrinkende wollten sich gegenseitig retten. Margarete spürte, wie das Mädchen zitterte.

„So, gehen Sie jetzt!“ rief sie halb im Ernst und halb im Scherz, „heute nicht mehr, ein andermal wieder!“

Und da geschah es, dass Margaretes Schützling Worte vernahm, ausgesprochen mit einer Stimme, die mehr aus Freude als aus Angst bebte:

“Ich werde nicht vergessen, ich werde dich nicht vergessen, meine Knospe, gute Nacht!“

Er ging und im Gehen blickte er noch von weitem zurück. Der Regen peitschte in die Bäume und das Wasser rauschte in die Kanäle. Sie gelangten zum Eingang des Parks, aus dem Dunkelheit strömte. Die blattlosen Zweige boten keinen Schutz vor dem Regen. Kleine Pfützen glänzten auf den ausgetretenen Wegen. Im Park rauschte der Regen anders als auf der Straße, als ob er mit der Stille der Bäume und Rasenflächen ein langes und seltsames Duett unsäglicher Trauer und übermenschlicher Freude vor sich hinsänge.

„Siehst du, du hattest Angst, ohne Hut in die Stadt zu gehen, und hast mit mir und unter meinem Tuch die erste Liebe gefunden. Ich wünsche dir, dass er sich als ein guter Junge erweist.“

„Aber geh, da war doch nichts. Er war zu uns wie wir zu ihm.“

„Ich glaube nicht,“ sagte Margarete, „doch du wirst es mir später sagen, wenn du aufrichtig zu mir sein wirst. Aber ich würde darauf wetten. Und wenn etwas daraus wird, dann wird es dir nichts mehr ausmachen, wohin dich deine Tante in den Dienst gibt.“

„Was geht er mich an! Ich habe noch nicht gesagt, dass ich ihn gemocht hätte!“

„Aber geh – wie sagte er zu dir? – Knospe! Ich habe doch gespürt, wie du zitterst!“

„Das war aus Angst, wenn du es wissen willst.“

„Aus Angst? Wovor? Vor ihm?“

„Nein, ich fürchte mich vor morgen. Gretl, eil nicht so nach Hause! Schade, dass es regnet, ich hätte gern mit dir geredet.“

„Komm, gehen wir zum Pavillon hinüber, dort werden wir nicht nass.“

Sie gingen auf einem Seitenweg in den Pavillon und setzten sich.

Gretl, ich bitte dich, rate mir, was soll ich tun,“ flehte sie mit zusammengespressten Händen, die in der Dunkelheit weiß schimmerten; „ich will nicht dort hin, wohin du mich heute geführt hast. Ich sehe ein, dass etwas mit mir geschehen muss, aber dass es so schnell kommt, habe ich nicht gewusst. Die Tante sorgt seit Mamas Tod nun schon fast ein Jahr für mich, ich weiß, dass das so nicht lang weitergehen kann. Aber ich kann nichts dafür, dass mich Mama in die Handelsschule gab und dass ich nichts anderes kann.“

Margarete zog ihren Kopf an ihre Schulter. Durch eine Schneise im Gebüsch waren die mit dem Widerschein der Stadt durchmischte Dunkelheit und die Umrisse von Tannen am Rande des Parks zu sehen. Der Park war fast leer. Zwei Soldaten trieben sich um den Pavillon herum, erblickten etwas Mädchenhaftes, vermuteten, dass dort irgendein Mädchen mit dem Geliebten sitzt, machten sich mit einer derben Bemerkung Luft und gingen weiter.

„Fürchte dich nicht davor, denn ich habe keine Handelsschule und will auch nicht bis zum Tod die Wäsche fremder Leute bügeln und in unserem Kramerladen Gemüse binden. Wenn ich dich nicht gern hätte, würde ich dich bedauern, aber weil ich dich gern hab, rate ich dir, die erste Arbeit anzunehmen, die sich bietet. Mit der Zeit wirst du Erfahrungen sammeln und sicher etwas anderes finden. Und je früher du aus dem Haus kommst, desto besser. Doch bis zum Lebensende wirst du nicht allein für deinen Lebensunterhalt sorgen.“

„Gretl, du hast gut reden. Du hast eine Mutter und dir wurden in der Schule keine unnützen Hoffnungen gemacht.“

„Die Mutter habe ich heute, und morgen habe ich sie vielleicht nicht mehr,“ antwortete Margarete.

„Wie das?“

„Ich habe schon gesagt, dass es ihr schlecht geht. Heute lächeln wir noch darüber. Aber dann?“

Jetzt bedauerte sie Margarete mehr als sich selbst. Sich selbst hielt sie für einen ausgerissenen Grashalm, dem Zufall und der momentanen kindlichen Hoffnung überlassen. Margarete stand bisher fest auf der Erde und nun sollte auch sie ihrer Wurzeln beraubt werden. Und sie sprach darüber so ruhig, als wäre sie aus Stein. Sie erkannte ihre Festigkeit, erinnerte sich an die Festigkeit ihrer Schritte und ihrer Stimme; ihre Stimme klang nicht grob, auch nicht im übermütigsten Lachen, sie überschlug sich nicht beim Schreien, die Lippen verzogen sich nicht zur spöttischen Grimasse, die Stirn wurde nicht von Runzeln entstellt, der Rock hob sich beim Laufen nicht mehr als sich ziemt, und ein zufälliger Anblick der Brüste huschte vorbei wie ein stilles Lächeln. Sicher erträgt sie jeden Angriff der Armut, des Unglücks und der Kränkung mit gefasstem Blick und ohne die Herrschaft über Gefühl und Verstand zu verlieren. Sie schloss die Augen, damit sie sich in diesem nasskalten und dunklen Augenblick in die rosiggoldene Schönheit jener Sommertage versetzen konnte, in denen sie begann, sie zu bewundern, überrascht vom Glanz ihres Aufblühens und vom Erwachen ihrer Stimme. Und nun ist ihre Mutter krank!

Margaretes Mutter war nicht schön. Eine bodenständige Greißlerin aus einer kleinen Gasse in der Vorstadt, ausgesöhnt mit dem kargen Leben, und daher gleichgültig und still verblüht. Über den schweren Bauch hatte sie eine Schürze gebunden und ihre Wangen und Lippen glichen irgendwie diesem schweren Bauch. Nur die Stirn überragte mächtig die kräftigen Brauen, die bei alten Frauen auf Kampfgeist schließen lassen, und ließ durch ihre Ähnlichkeit mit Margarete erahnen, wie sie in ihrer Jugend ausgesehen haben mochte. Die Nasenflügel, ja die ganze Nase, waren von der ständigen Atemnot müd geworden und die Brüste erschwerten wie eine unnütze Last die Arbeit des breit gewölbten Brustkorbs. Ihre Stimme schien all die unnötige, beschwerliche und lächerliche Bürde des Körpers überschreien zu müssen. Und in all dem war sie das Gegenteil ihrer Tochter.

Aber jetzt entsann sie sich auf die Nähe und Verwandtschaft von Armut und Alter. So kam sie Margaretes Mutter immer näher und stellte sie sich jünger und immer jünger vor, als ob sie sie ehrerbietig ihrer Jahre entkleidete, bis ihr schien, als sähe sie sie im Alter und Aussehen Margaretes, und als erahne sie zugleich, ernst aber ohne Rührung, all die Sorgen und Kämpfe, die Hinfälligkeit, Verwelktheit und Entstellung, die ihr damals als Schicksal ihres weiteren Lebens noch bevorstanden.

Sie betrachtete diese junge, einstige, längst vergangene, achtzehnjährige Mutter Margaretes wie eine weihevolle Erscheinung, die sie um etwas vertraulich und fromm bitten sollte. Ja, dieses schöne und feurige Mädchen, nun alt und hässlich geworden, schickt eines Abends ihre Tochter Gretl, in ihrer Schönheit, damit sie sie tröstete in Tränen und Angst, damit sie sie mit ihrem Schultertuch vor dem Regen schützte, damit sie sie an ihrer Brust sich ausweinen ließ.

Dann erinnerte sie sich an ihre eigene Mutter, die starb und Angst um sie hatte wie eine vom Pfeil getroffene Wildgans – – und sie erinnerte sich, wie oft sie sie mit Margaretes Mutter verglichen hatte. Aus ihren Augen glänzten stille Märchen, ihre Hände waren zärtlich und ihre Stimme so, dass sie sie nach ihrem Tod aus allen Bäumen und aus jedem Gräslein hörte. Jetzt aber erschienen ihr Beide so nahe, als ob der Engel des Todes die Unterschiede zwischen ihnen verwischt und ausgelöscht hätte, als ob die Gesichter der Beiden sich in geheimnisvoller Gerechtigkeit verändert hätten, und ihr war so zumute, dass sie am liebsten zu Margaretes Mutter gegangen wäre, um ihr Abbitte zu leisten.

Sie schwieg eine Weile, bis Margarete sie streichelte.

„Du schläfst!“ Sie riss sich von ihren Träumen los und war eigentlich froh darüber. Ihre Stimme hellte sich auf.

„Gretl, ich möchte sein wie du. Noch habe ich es nicht können. Ich werde keine Angst mehr haben, aber hilf mir am Anfang ein wenig! Ich gehe meinetwegen als Dienstmädchen, weil ich jetzt erst sehe, wie dir das steht und wie dumm ich bin.“

„Ich bin froh, dass du dich aufgerafft hast. Das Glück wird dich bestimmt finden.“

„Nein, Gretl, ich möchte nur, dass es mir so stünde wie dir.“

„Sieh mal an, wie du schmeicheln kannst, aber gehn wir jetzt!“

Sie gingen in die Allee; sie wollte den Atem anhalten; der Engel der Armen und der Teufel der Armen, völlig neue Wesen, gingen neben ihnen und ihre Schritte waren zu hören. Auf der Straße zuckte sie noch ein paar Mal zusammen, wenn sie Bekannten begegneten, und sie überlegte, wie lang es noch dauern wird, bis sie sich völlig daran gewöhnt. Margarete führte sie zu ihrer Mutter.

Sie glaubte, dass sie sie im Bett finden würde unter einer schweren Tuchent, aber die alte Frau, die eher eine robuste Frau als eine Greisin war, tat sich in der Küche um und setzte sich nur hin und wieder auf  einen niedrigen Hocker. Sie getraute sich nicht, sie zu fragen, wie es ihr gehe, doch die Krämerin begann selbst von ihren Schmerzen zu erzählen.

Sie war froh, dass sie klagen konnte, und sie sprach mit freimütiger Zutraulichkeit von den Schmerzen im Bauch und von verschiedenen Beschwerden. Die Leute lachten über sie oder machten ihr Angst, die Ärzte gaben ihr Tropfen, die nicht helfen. Sie brachte Fläschchen, zeigte sie ihr und ließ sie riechen; sie rochen nach Zimt und sahen aus wie Blut. Sie redete laut, als ob sie mit ihrer Krankheit oder mit den Ärzten haderte, gebrauchte schlichte und auch derbe Worte, lächelte resigniert, offenbarte Schmerzen, die so intim waren, dass es schwer fiel, darüber zu sprechen.

„Aber Mama, das versteht sie doch gar nicht, was du ihr da erzählst,“ rief ihr Margarete zu, als sie die respektvolle Schweigsamkeit ihrer Freundin sah.

Diese hat das tatsächlich kaum verstanden; sie war doch gerade erst zur Jungfrau herangewachsen, und Margaretes Mutter erzählte von Krankheiten einer Frau, die eigentlich schon aufgehört hat, eine Frau zu sein. Sie hörte das wie eine seltsame und schmerzliche Fabel, die sie eher glauben als verstehen konnte, die aber eine Erkenntnis enthielt, die sie tief beeindruckte: Diese alte Frau, Gretls Mutter, vertraute sich ihr, dem Mädchen, mit ihren geheimsten und verschämtesten Schmerzen an mit einer vertrauensvollen Offenheit, vor der ihr fast bange wurde. Sie wusste nicht, warum sie ihr das erzählte, aber etwas durchfuhr sie mit einer heimlichen Ahnung, dass diese alte Frau jetzt ebenso schwach ist wie sie und dass irgendeine besondere, andachtsvolle Wertschätzung für Jugend und Unschuld das Alter zu dieser Beichte und Bußfertigkeit treibt, als ob ein Engel des Alters zum Engel des jungen Mädchens spräche.

Die alte Frau zwang sich zum Humor, lud sie in der Stube, die von der Petroleumlampe aus der Küche beleuchtet wurde, zum Sitzen ein, und plötzlich erscholl Margaretes Stimme. Diese hatte inzwischen nach dem Herd und den Regalen gesehen und lud nun die Freundin auf einen Tropfen des hausgemachten Weichsellikörs ein, der beim Fenster stand. Sie öffnete das Fenster, etwas fiel auf den Fußboden, aber Margarete achtete nicht darauf.

Sie wollte Margarete darauf aufmerksam machen, hob es selbst vom Boden auf, aber Margaretes Aufmerksamkeit war abgelenkt; darum behielt sie den gefundenen Gegenstand in der Hand, lobte den Weichsellikör und verteidigte die Tante, weil die Krämerin sie plötzlich als geizige und herzlose Frau schlecht zu machen begann; mit Befremden erfuhr sie, dass die Tante irgendeine Stelle für sie suchte, um sie loszuwerden. Und als sie sich schon verabschiedet hatte und Margarete sie zur Tür begleitete, hielt sie noch immer den gefundenen Gegenstand in der Hand und erst vor ihrer eigenen Wohnung bemerkte sie, was sie da eigentlich hat. Aber da erschien es ihr nicht mehr vernünftig, damit zurückzukehren, denn sie begann darüber zu lachen und steckte es in ihre Bluse.

Als sie nach Hause kam, sahen die Tante und deren Sohn sie neugierig an, stellten aber keine Fragen. Der Cousin zog sich gerade für den Wirtshausbesuch an und die Tante wärmte Wasser für ihre Füße.

„Margarete hat mich in irgendein Hotel geführt, aber die Chefin sagte, dass sie erst morgen zusagen kann,“ sagte sie lässig.

„Gut, ich werde morgen hingehen,” sagte die Tante, “jetzt poliere noch das Messing und geh dann schlafen!”

„Du wirst also in einem Hotel sein,” wunderte sich der  Cousin mit einem Grinsen, „dort wirst du wenigstens Spaß haben.“

„Glaube ja nicht, dass sie in der Ausschank sein würde,“ sagte die Tante, „Frauen dürfen jetzt nicht mehr bedienen.“

„Das ist schade,” sagte ihr Sohn.

„Schluss jetzt!” wies ihn die Tante zurecht.

Als sie arbeitete – und es war nicht nur das Messinggeschirr, sondern noch eine ganze Reihe anderer, stets neu erfundener Aufgaben -  redete die Tante, zuerst in einzelnen Bemerkungen, dann pausenlos. Sie hatte nicht einmal Zeit, sich nach der Tante umzusehen. Margarete hatte ihr das alles auch schon gesagt, aber ganz anders. Sie schwieg und gab sich gehorsam. Dann begann die Tante sie zu trösten und sich auf ihre Mutter zu berufen, dass sie nur aus Liebe zu ihr so für sie sorgt, dass sie genug eigene Sorgen hat, dass der Sohn bereits seine eigene Berufstätigkeit in die Wege leiten muss, dass sie ihr Kämmerlein brauchen werden, da der Sohn vielleicht auch bald heiraten wird.

Der Sohn trödelte vor seinem Wirtshausbesuch lang herum. Er schaute seine Cousine an und trällerte von Zeit zu Zeit frivole Liedchen. Als er zur Tür hinausging, ging sie sofort in ihr Kämmerchen. In der Dunkelheit des Ganges rief er ihr nach und flüsterte etwas. Sie entwand sich ihm, als er sie kneifen wollte, und lief weg. Sie zündete eine Kerze an und die Tante kam nach; diese machte selbst das Bett, auf das sie sehr heikel war. Wenn sie manchmal die mit Bändern versehene Steppdecke faltete und die Daunendecke zur alten Kommode trug, hätte nicht viel gefehlt und die Tante hätte sie gezwungen niederzuknien, bevor sie zum Bett trat, und erneut niederzuknien, wenn sie die zusammengelegte Bettdecke und das Federbett in die Kommode legte. Manchmal sah sie nach, ob sie ihr nicht mit den Fersen das Furnier an den Bettfüßen abwetzte. Doch heute machte ihr die Tante selbst das Bett. Aber das Mädchen konnte es kaum mehr erwarten, dass die Tante verschwindet.

Sie zog sich aus. Sie fand in der Bluse den hineingesteckten Reifen mit den Haaren. Sie betrachtete ihn beim Kerzenlicht, konnte nicht begreifen, wozu er diente, und fand ihn komisch. Sie lief im Hemd und Unterrock zum Spiegel. Der Spiegel war noch immer mit dem Glas zur Wand gedreht. Sie stieß ihn an und das fleckige Glas kippte in die richtige Stellung. Sie versuchte eine Weile, wie man das aufsetzt, bis sie draufkam, dass es Ohrlocken waren, also Locken, mit denen man die Ohren verdeckt. Das gefiel ihr sehr, aber diese Locken waren fast schwarz, denn Margarete sah aus wie eine Zigeunerin; sie aber hatte helle Haare. Damit sie sich das besser vorstellen konnte, band sie sich ein Kopftuch um, mit dem sie die eigenen Haare auf der Stirn verdeckte. Jetzt war es besser. Es schien ihr, dass sie Margarete ähnlich sieht wie eine Schwester. Sie könnte noch ähnlicher sein; sie erinnerte sich an den roten Stein in der Tischlade und versuchte mit großem Eifer, was man damit machen könnte. Zwar sah sie, dass man diese Kunst nicht sofort erlernt, doch war sie überrascht, wie sich ihr Bild veränderte.

Wie gern hätte sie es übermalt und vielleicht auch die Haut verändert! Sie sprang in das Bett und noch bevor sie die Kerze auslöschte, warf sie aus der Ferne einen Blick in den Spiegel. Sie hatte keine Lust, die fremden Federn abzulegen. Sie erinnerte sich, warum sie einst verdrießlich den Spiegel mit dem Glas zur Wand gedreht hatte. Das war damals, als sie beim Waschen im Spiegel sah, dass ihr kindlicher Körper sich in einen jungfräulichen verwandelt hatte, und sie konnte sich mit diesen fremdartigen und unerträglichen Gefühlen nicht abfinden. Jetzt lächelte sie darüber, weil sie sich erinnerte, wie sie sich im Pavillon an Gretls Brust beruhigte. Sie erschrak noch bei der Erinnerung an den unbekannten Jungen, aber schon löschte sie die Kerze aus und deckte sich rasch zu, damit sie träumen konnte. Ehe sie vollends einschlief, hörte sie noch das Rascheln einer Maus unter dem Schrank. Sie freute sich darüber und schlief mit einem Lächeln ein.

Aber am Morgen kehrte die Beklommenheit zurück und die Angst forderte den Tribut für die gänzlich durchschlafene Nacht. Die Tante begann sofort wieder zu reden. Mehr aus Angst als aus Frömmigkeit floh sie in die Kirche, und als Kinder zu singen begannen, sah sie vor Tränen den Altar nicht mehr. Am Heimweg klapperten ihr die Zähne. Aber der Cousin war in der Zwischenzeit weggegangen und auch die Tante war im Begriff wegzugehen. Sie befahl ihr zu kochen und aufzuräumen und ließ sie allein zu Hause.

Das Wasser sprudelte heimelig in den Töpfen, die Sonne kämpfte sich durch die Fenster, die Pfützen glänzten. Sie öffnete das Fenster und sah eine Weile hinaus. Dann erinnerte sie sich an jene seltsamen Locken, schlich sich wie eine Diebin in ihr Kämmerlein und kehrte mit den Locken und dem Stein zurück. Um die Schultern legte sie den Schal der Tante, der ebenso grün war wie das Schultertuch Margaretes. Fast andächtig stand sie vor dem Spiegel und suchte Margaretes Gesicht.

Da erscholl auf der Straße der Ruf eines Kindes und ohne zu überlegen sprang sie zum Fenster. Es war gleich wieder still, nichts geschah, dann war nochmals ein Ruf zu hören: „Margarete!“ Sie blickte auf die Straße, beugte sich aus dem Fenster, um Margarete zu sehen, aber plötzlich erscholl fast vor ihrem Gesicht neuerdings ein Ausruf:

„Margarete!“

Sie erblickte Margaretes Schwester, ein etwa zwölfjähriges Mädchen. Sie war überrascht.

„Was schaust du mich so an? Ich rufe zweimal nach dir und du meldest dich nicht,“ warf ihr das Mädchen vor.

Sie sah sich um, ob nicht jemand in der Nähe ist, und tatsächlich näherte sich jemand, es war keine Zeit mehr für eine Erklärung. Sie lächelte und legte den Finger auf die Lippen. Das Kind verstand nicht, was damit gemeint war. Ein junger Mann kam; sie richtete sich auf und verbarg sich halb hinter dem Fenster. Er ging weiter, aber irgendwie widerstrebend, vielleicht war ihm eher zum Reden zumute. Das Kind blickte ihm nach; nach einer Weile sagte es mit einem unbewussten mädchenhaften Instinkt:

„Er kommt zurück!“

„Lauf weg, versteck dich!“ sagte sie schnell und gedämpft und das Mädchen, dem die Stimme vielleicht ungewohnt erschien, verzog die Lippen zu einem Lächeln und ging weg.

Sie verbarg sich hinter dem Vorhang, riss die fremden Locken herunter, wischte sich das Gesicht ab und trat wieder ans Fenster. Sie war aufgeregt und glücklich. Gern hätte sie hinausgesehen, aber sie konnte nicht, sie streichelte nur mit der Hand über die Fuchsien, und erst als sie die Schritte ganz nahe hörte, warf sie errötend einen Blick hinaus. Er schaute her. Schnell sprang sie zurück und wagte kaum zu atmen. Er ahnte wohl, dass sie zum Fenster zurückkommen oder auf den Gang hinauslaufen werde. Sie streckte die Hand aus und riss eine Fuchsienblüte ab. Bevor er das bemerkte, verschwand sie wieder. Nur die schwankenden Fuchsienstängel verrieten, dass die Liebe nicht schläft. Nicht recht wissend, was sie tun soll, warf sie die Fuchsienblüte auf ihn. Sie fiel auf den Boden. Er hob sie auf. Sie zeigte sich; da ergriff er ihre Hand und konnte nichts sagen, denn er wollte nicht, dass ihn die andere hörte, und sie selbst war jetzt wieder ganz erschrocken vor Glück.

„Wo ist die andere?“ fragte er schließlich.

Da lachte sie auf.

„Hier bin nur ich allein, oder haben Sie hier noch eine andere gesucht?“

„Nein, so schnell konnte sie nicht entwischen. Wo versteckte sie sich?“

In meiner Tasche. Sicher! Glauben Sie es nicht?“

Und als er es nicht begreifen konnte, zog sie aus der Tasche den Reifen mit den Locken und beide lachten.

„Da kommt die Tante! Ich muss kochen gehen!“ rief sie aus und versuchte zu verschwinden. „Verlassen Sie mich, werfen sie die Blume weg!“

Tatsächlich sah er eine alte Frau. Das Mädchen verschwand mit einem Sprung im Halbdunkel des Zimmers.

Die Tante kam. Sie erkundigte sich, wer das war. Sie log, dass es ein Mitschüler aus der Handelsschule war. Bis zum Mittagessen war ihr froh zumute und nach der melancholisch durchtönten Glückseligkeit der ersten Begegnung huschte ein rosiger Anflug der Wehmut über ihre Wangen, entfachte einen warmen Glanz in ihren Augen und überzog zugleich ihr Gesicht mit dem Raureif einer süßen Bangigkeit. Aber ein Lied drängte sich auf die Lippen. Jetzt weiß er schon, wo sie wohnt und wird sie da suchen.

Nach dem Mittagessen zog der Cousin das Grammophon auf; sie wusch das Geschirr ab und die Tante zog sich umständlich für den Gang ins Hotel an. Sie war schweigsam, nachdenklich und leicht zerstreut, solange sich die Tante die unzähligen Falten des Kleides und die Haare unter dem Hut zurechtlegte, wobei sie den Hut mindestens dreimal abnahm, und dann noch Taschentuch, Tasche und Regenschirm suchte; aber als die Tante bereits fertig war und sich noch feierlich aus der Tür umsah, zitterten ihr die Knie so, dass sie die Schüssel in das fettige Wasser im Schaff fallen ließ. Ohne auf die Bestürzung der Tante zu achten, stöhnte sie plötzlich auf:

„Geben Sie mich woanders hin in den Dienst! Ich gehe dort nicht hin!“

„Was geht dir da durch den Kopf? Dienst? Wer hat dir das gesagt? Und du weißt ja noch gar nicht, ob sie dich wollen. Du kannst froh sein, dass –„

Aber das Mädchen schluchzte schon, und weil sie nasse Hände hatte, bedeckte sie das Gesicht und die Tränen mit dem Ellbogen.

„Aber du wirst ja noch darüber schlafen, und weine mir nicht auf den Weg! Lieber würde ich nirgends hingehen. Übrigens, vielleicht findet sich etwas Besseres! Wir werden sehen, was sich findet!“

Das Mädchen schluchzte weiter. Die Tante wartete.

„Soll ich jetzt gehen oder nicht?“ rief sie gereizt.

Ohne sich zu ihr umzudrehen, schüttelte sie ablehnend den Kopf. Die Tante seufzte und ging hinaus, wobei sie im Gang und auf dem Gehsteig mit den niedrigen Absätzen aufstampfte. Das Grammophon gröhlte ordinäre Lieder. Der Cousin kam mit den Händen in der Tasche in die Küche und stieß die Putzlappen mit den Füßen herum.

„Warum willst du nicht ins Hotel?“ fragte er sie mit ungewöhnlichem Interesse. „Genierst du dich?“

„Vielleicht gibt es doch noch eine andere Stelle als diese?“

„Hm, du hast es eher selbst nötig, dass dir jemand dient.“

„Du willst angeblich heiraten?“ wechselte sie selbst das Thema.

Er stutzte und sah sie durchdringend an.

„Das eilt nicht. Zehn auf einmal kann ich mir nicht nehmen und eine nach der anderen gibt genug Arbeit,“ lachte er.

Sie wusste nicht, wie sie antworten soll und versuchte, das Thema zu wechseln. Aber er war in seinem Fahrwasser, fühlte sich als Herr der Lage und traf mit jedem Satz seiner Hänseleien das Schamgefühl des Mädchens. Sie beeilte sich mit dem Aufräumen. Sie antwortete nur einsilbig, weil sie fürchtete, einen einsamen Streit auszulösen. Sie hatte auch ein wenig Angst. Er legte gerade ein dröhnendes Lied auf, das er vor der Tante niemals zu spielen gewagt hätte. Sie trug das letzte Schaff hinaus und kehrte nicht mehr in die Küche zurück, sondern schloss sich in ihrem Kämmerchen ein, zog sich rasch an und schlich sich aus dem Haus auf die gegenüberliegende Seite, wo sie von einem Fenster der Wohnung aus nicht gesehen werden konnte.

Es war Sonntag Nachmittag und jeder Weg führte in den Park. Sie wollte nicht hinaus gegen den Strom der Leute, denn sie konnte sich nicht gegen die Wogen so vieler Menschenaugen stemmen, die sich mit solcher Wucht gegen sie heranwälzten. Sie musste schnell gehen, damit sie nicht belästigt wurde. Sie ging, als eilte sie nach Hause, aber es war ziemlich weit bis dorthin und sie wusste nicht einmal, wohin der Weg geht, und niemand würde ihr helfen können. Sie hatte das Bedürfnis, sich auszuruhen, aber sie wusste nicht wo. Der Himmel hatte sich wieder eingetrübt, an den Kreuzungen fiel nasskalter Wind herein. Sie ging durch den ganzen Park. Das Laub war verrottet und abgebrochene Zweige knackten unter den Füßen. Die Blumenbeete waren umgegraben, die Bäume gestutzt, nirgends ein Blümchen. Nur Menschen in Regenmänteln, schlecht genährt und gereizt wegen der Kürze des Sonntags und des Vergnügens, wirbelten wie verfaulte, ungeheuer große Blätter über die Wege, wie Fetzen alter Kunstblumen von lächerlichen weggelegten Hüten, und verwandelten die Wege des Parks in Trödelmarktgassen. Überall war trostlose Derbheit und dürres Lachen zu hören. Flecken von Sonnenlicht huschten über Hausdächer und schwarzes Geäst. Jetzt grinste die Rückseite des Hotels herüber. Dort gackern große kahle Hühner über ihr Schicksal in stinkenden Kellern und Anbauten. Sie eilte weiter, bis sie in eine Straße kam, durch die eine Straßenbahn führte. Der Menschenstrom wälzte sich hier zur Peripherie der Stadt. Sie erinnerte sich an den Friedhof. Da sie nicht genug Geld hatte, ging sie zu Fuß. Der Wind peitschte ihr heulend ins Gesicht, die Pappeln rauschten, die Straßenbahn rumpelte, der Boden erbebte, die Sonne blendete die Augen. Sie ging. Und als sie ermüdet vom Wind und mit Schmutz bespritzt in die Friedhofsallee gelangte, schien es ihr, dass sie nun jeder Gefahr entronnen war, dass nur für sie Ahorn, Wacholder und Lorbeer gepflanzt waren, dass nur für sie die Gräser auf den Gräbern zittern und die regenfeuchte Erde ihre bezaubernden Melodien erklingen lässt. Weit war es noch zum Grab, aber sie hatte keine Eile mehr. Sie überlegte, was sie dort sagen wird und konnte sich keine Bitte so schön ausdenken, wie sie sich‘s wünschte. Und sie stand früher vor dem Grab, als sie erwartet hatte.

Sie machte ein Kreuzzeichen über das Grab und suchte zaghaft nach den Anfangsworten eines Gebetes. In ihrem Gemüt geriet alles durcheinander. Und da fiel sie auf das Grab und umfasste es mit beiden Armen, von heftigem Weinen geschüttelt. Schon schien es ihr, dass sie die Mutter aufweckt, aber sie konnte sich nicht helfen, obwohl sie wusste, dass sie nichts haben würde, womit sie sie bedecken, wohin sie sie führen, womit sie sie satt machen könnte. Und als sie von der nasskalten Erde ganz steif geworden war, richtete sie sich auf, und während sie sich noch im Knien das Gesicht abwischte, nahm jemand sie bei der Hand. Sie war verblüfft und konnte nicht schnell genug aufblicken.

„Hier ist es kalt,“ hörte sie eine ruhige, warnende Stimme sagen.

Sie stand auf, bleich und zitternd vor Kälte. Es schien ihr, dass sie nicht so weinen sollte, wenn jemand sie sah.

„Kommen Sie, ich werde Sie begleiten, damit Sie sich nicht so verlassen fühlen!“

Er nahm sie am Arm und in der Benommenheit dieses Augenblicks kam es ihr nicht in den Sinn, dass sie widersprechen könnte, sondern erst, als sie in der Allee gingen.

„Jetzt fühle ich mich wieder ganz in Ordnung, lassen Sie mich, ich werde jetzt nach Hause gehen!“

Sie versuchte sich von ihm loszureißen, aber er drückte ihre Hand umso fester.

„Nein, ich lasse nicht los!“

„Immer gehen Sie mir nach, aber ich will das nicht!“

„Dann hätte ich Sie aber nicht so gesehen. Ich kann nichts dafür, dass ich gerade dazu gekommen bin.“

„Ja, meinen Sie denn, dass ich mich Ihretwegen so verhalten habe?“

„Nein. Wenn ich Sie jetzt nicht gesehen hätte, könnte es sein, dass ich vergessen hätte. Aber jetzt kann ich nichts anderes tun als das, was ich muss.“

„Und was ist das?“

Er lächelte, ergriff ihre Hand mit beiden Händen und drückte einen verstohlenen Kuss in die Handfläche, sie aber zuckte zurück und riss sich von ihm los. Aber sofort hatte er sie eingeholt und gewährte ihrem Trotz einige Minuten Ruhe. Sie verließen den Friedhof.

„Sind Sie mir nicht mehr böse?“

„Ich bitte Sie, was denken Sie sich eigentlich? Sie könnten sich geirrt haben.“

„Nichts denke ich mir. Ich habe Sie gern.“

„Warum?“

„Ich weiß es nicht.“

Im letzten Gras leuchtete ein vereinzeltes kleines Gänseblümchen. Er pflückte es.

„Statt Rosen werden wir Gänseblümchen haben.“

„Wozu?“

Von der Anhöhe blies der Wind. Vor Kälte drückte sie sich unwillkürlich an ihn. Von oben rumpelte die Straßenbahn heran. An der Kreuzung pfiff der Wind. Pfützen glänzten auf der ausgefahrenen Straße. Plötzlich riss sie die Hand hoch, aber ehe sie den Hut fassen konnte, flog er schon im Wind. Er riss sich von ihr los und rannte ihm nach. Aber die Elektrische war schneller, wirbelte den Mädchenhut herum und schleuderte seinen ruinierten Rest in eine Pfütze. Er stand ratlos da, in der Nähe lachte einer über ihn. Er kam zurück und schämte sich, weil er den Hut nicht rechtzeitig erwischt hatte. Sie war bestürzt, aber als sie seinen Blick sah, begann sie gegen jede Erwartung zu lachen.

„Jetzt werden Sie nicht mehr mit mir gehen! Gut, dass er kaputt ist, und einen anderen werde ich nicht mehr haben. Jetzt ist es zu Ende.“

Aber es war nicht zu Ende. Sie wusste nicht einmal, wie es geschah, dass sie zusammen im Park saßen und dass sie aufhörte, vor Kälte zu zittern. Sie wusste nicht, was mit ihr geschieht: sie spürte nur eine Angst, die sie bisher nicht kannte, sie befürchtete, dass ihr anzusehen wäre, dass sie plötzlich von einem unbekannten Glück erfasst wurde, an das sie sich nicht zu gewöhnen wagte. Es erschien ihr, dass über ihr ein Stern glüht, der ihren Kopf wie eine Krone aus Edelsteinen ziert, und dass die Leute das in der Dämmerung gewiss sehen werden, dass sie aber auch sehen werden, dass sie nur ein Dienstmädchen ohne Arbeit und fast ohne Unterkunft ist; dass ihre Kleider nicht hochzeitlich, sondern armselig sind, und dass ihr Freund vielleicht blind oder verrückt ist. Aber sie konnte all dem keinen Widerstand entgegensetzen. Er bot ihr alles an, was er hatte und was er konnte, aber sie hörte nur halb zu; sie nahm sich das nicht ernsthaft zu Herzen, sie war heiter und hörte mit verhaltenem Atem eher nur auf seine Stimme. Aber als er mit einem Zündholz seine Ersparnisse anzünden wollte, falls sie ihn zurückwies, spielte sie mit seiner Hand wie ein Kätzchen und lächelte errötend. Die Flamme des Zündholzes schwärzte ihren Ärmel. Er erschrak darüber und das Zündholz erlosch. Sie schmiegte sich an ihn und erschrak zum ersten Mal über ihre Freude. Er küsste sie.

Er bat sie, ihm etwas über sich selbst zu erzählen. Sie erzählte ihm also, wie sie darauf wartet, womit ihre Tante aus dem Hotel zurückkommt.

„Und was wirst du tun?“, fragte er sie.

„Ich gehe irgendwo hin als Dienstmädchen. Begreifst du jetzt, in wen du dich verlieben willst?“

Schnell umarmte und küsste er sie, ohne darauf zu achten, ob sie jemand beobachtet.

„Fürchtest du dich nicht davor?“ fragte sie mit heimlicher Erregung.

Er lächelte.

„Je ärmer du sein wirst, desto schöner und kostbarer wirst du mir sein!“

Sie sah ihn ernst an.

„Aber wirst du dich bei mir melden?“

„Immer! Rufe nur, und du wirst sehen!“

„So! Ich soll rufen? Du musst von selbst kommen, damit ich weiß, dass du dir etwas aus mir machst!“

„Ich werde kommen.“

Sie errötete plötzlich und da sah sie, dass er die Augen niederschlug.

„Sag es mir und schau mir in die Augen!“ rief sie lechzend.

Sie sagte das mit so reiner Stimme, dass er vor Freude errötete. Er wollte die Augen heben. Aber manchmal ist das schwer.

Das Mädchen blickte nun ruhig wie ein Kind.

„Du willst nicht, gelt?“ rief sie neckend.

Er wollte, aber er konnte nicht. Er drückte sie an sich, um sich zu verbergen.

Das genügte ihr. Sie drückte ihm die Hand. Leute gingen vorbei. Der Wind legte sich. Der Abend nahte. Die Uhr schlug.

Er begleitete sie nach Hause, Arm in Arm. Er sah sie an, als müsste er sie erst finden. Es schien, dass die Liebe mit ihrer grenzenlosen und weihevollen Weite die beiden erfreute, obwohl die Dämmerung nahte, als müsste sich die Seele des Mädchens in sie einhüllen, damit der Körper in seiner Freiheit erscheinen konnte.

Kaum hatte sie sich von der Ohnmacht erholt, in die sie durch die plötzliche Offenbarung von Armut und Not geraten war, erhielt sie unverhofft die Liebe als wunderschönes Geschenk. Sie erzitterte vor der ersten Schönheit des Glücks. Sie wollte nicht, dass dieses Geschenk sie aus ihrer Armut herausreiße, dass es ihr Leben ändere. Jetzt wollte sie zuerst freudig ihr Brot verdienen, wo auch immer, wenn es nur ein ehrenhaftes Brot sein würde.

Früher als erwartet standen sie vor dem Haus. Schon von weitem rief ihr Margarete zu:

„Nun brauchst du dir keine Sorgen mehr machen! Die Tante ist unverrichteter Dinge heimgekommen!“

Sie verabschiedeten sich. Sie nahmen die freudige Gewissheit mit sich, dass sie einander von neuem suchen werden und dass sie sich sehen werden, dass das Lied erst beginnt. Aber trotzdem kommt jeder Abschied allzu früh.

 

 


 

 


 

 

Kapitel II

 

Er kehrte aus dem Gasthaus zurück, wo er mit seinem Chef beim Mittagessen saß. Der Chef war heute gesprächig und mitteilsam, zum ersten Mal seit mehreren Jahren. Sie nahmen hier an einer mehrtägigen Kommissionssitzung teil. Der Chef, ein ernster und zuweilen mürrischer alter Herr, wich vor allem Firmenkollegen gern aus, und heute setzte sich der junge Mann, der zum verspäteten Mittagessen in das Gasthaus kam und ihn allein am Tisch erblickte, zu ihm. Der Chef lästerte über höhere Instanzen und freute sich auf die Pension. Er sprach zu ihm sehr anerkennend und schmeichelhaft.

„Um Sie ist schade hier. Sie wissen das selbst und sind noch jung. Dreht sich ihnen nicht der Magen um bei der Arbeit, die sie verrichten, und bei denen, die sie Ihnen auftragen? Sie müssen mir das nicht bestätigen. Aber wenn ich Sie sehe, tun Sie mir leid. Ich bin auch aus der Armut gekommen. Wenn Sie Schreiber bleiben, werden Ihre Kollegen neben Ihnen noch zwanzig Jahre reden von Mädchen, die nicht heiraten, und von Krawatten, oder sie werden sich beklagen über feuchte Wohnungen, alternde Frauen und kranke Kinder, und aus euch werden schwerhörige und hustende Nihilisten. Selbstverständlich darf ich Sie nicht vertreiben, Sie arbeiten gut; aber haben Sie sich bisher nicht nach einer angemesseneren Arbeit umgesehen?“

Dann hielt er ihm allerlei Schwierigkeiten vor Augen, die entstehen würden, bis er die zwar sichere, aber armselige Stelle aufgäbe, all die bedrückende Unsicherheit, aber auch all die Hoffnungen, und dann - was das Vernünftigste war - bot er ihm an, dass er sich bei seinen Bekannten in der Versicherungsbranche einsetzen wird.

„Wenn Sie in der Welt unter die Leute gehen, dann öffnen Sie die Augen und finden Sie vor allem das, was ich nicht gefunden habe. Wenn ich doch mit Ihnen neu anfangen könnte!“

Er sprach aufrichtig und erfüllte ihn mit einer besonderen Begierde und Freude. Er nahm das Angebot an. Er müsste noch mehrere Wochen oder vielleicht Monate in dieser Stelle ausharren und sich inzwischen vorbereiten.

Das war seine langgehegte Sehnsucht, mit der er jedoch vorsichtshalber nicht prahlte. Eine solche Sehnsucht hatten wohl alle, die mit ihm in der Schreibstube saßen, als sie sich zum ersten Mal an den Schreibtisch setzten; aber sie hatten sie wahrscheinlich schon längst begraben wie eine verlorene Jungfräulichkeit.  Er selbst ist immer mit heftiger Verliebtheit zu ihr zurückgekehrt. Sie war immer schön und hat mit den Jahren ihre Schönheit nicht verloren, im Gegenteil, eine Art Nostalgie hat sie eher verstärkt. Der Chef schüttelte ihm herzlich die Hand, bezahlte für ihn die Rechnung und verabschiedete sich von ihm so, dass sogar dieses innere Lächeln, welches im Menschen beim Anblick des empfindsamen Lebensalters aufkommt, schnell in ihm erlosch.

Er trat auf die Straße und sah die Welt auf eine Weise, als sollte er in aller Eile nach Amerika ausreisen. Das war eine fast verbindliche Weisung des Schicksals, eine Weisung, die ein besonderes Abenteuer garantierte, eine besondere Lust der Freiheit, einen besonderen Geruch der Armut, des Hungers, der Kälte und der Sehnsucht, einen besonderen Glanz der Dinge, denen er begegnen und die er finden wird. Fast wäre er am Rand des Gehsteigs gestolpert und mit Passanten zusammengestoßen. Ein strahlendes Mädchen ohne Kopfbedeckung und mit Sandalen an den nackten Füßen wandte ihm ihr Gesicht voll zu, mit einem Lächeln, das fast ein Aufschrei war, aber er wurde sich dessen erst bewusst, als er sich zu spät und vergeblich umsah. Er ging in das Haus und die Stufen der Treppe, die Wände der Gänge und der Geruch des Hauses erweckten in ihm Erinnerungen an die Vergangenheit. Wie seltsam das war, schmutzig und schön, arm und prachtvoll! Er ging ins Zimmer, ergriff den Handkoffer und packte seine am Tischchen liegenden Sachen ein. Dann erinnerte er sich, dass er noch genug Zeit hatte. Es ist Samstag Nachmittag, der Chef wird erst am Abend abreisen. Auch der robusteste Mensch benützt freie Augenblicke gern für Erinnerungen, besonders wenn ihm Müdigkeit ein Recht auf Erholung gibt und er nicht gerade irgendwohin gehen soll. Er sah sich noch in diesem Zimmer um, das anzusehen er bisher keine Zeit hatte und das er schon wieder verließ, wie sein Leben, das anzusehen er auch keine Zeit hatte, das er allerdings noch nicht verließ. Es erinnerte ihn an die Einsamkeit, an eine seltsame, fast paradiesische Einsamkeit, in deren Umkreis Fluren blühn und unsichtbare Schönheit sichtbar wird, vergleichbar einem Brautgemach, das die Geliebte betritt, anmutig und strahlend.  Sie wird ihn nicht fragen, was er ist, wird sich nicht daran stoßen, dass er nur ein Schreiber ohne Würde, ohne Ruhm und Namen ist, sie werden sich nicht kümmern um das Gerede der Leute. Er hatte hier nur den Handkoffer mit den nötigen Dingen, irgendein Büchlein mit eingelegten Fotos, von denen keins ein Mädchenfoto war. Und einige Dinge waren von bereits Verstorbenen. Sie waren eilends aus dem Grab erstanden, aber ehe sie von Kopf und Rücken die schweren Hüllen abwerfen konnten, waren seine Augen schon wieder woanders. Er blätterte eine Seite um und eine trockene, zerknitterte Blume glitt ihm auf die Hand. Instinktiv ergriff er sie, stand auf und ging, als wollte er eine Erinnerung vertreiben, zum Fenster.

Es war Frühling, eigentlich schon Spätfrühling. In der Allee glänzten Ahornbäume und Linden in strahlendem Grün. Ein Kohlweißling flatterte über der Straße. Von weit her ratterte ein Auto. Spatzen zwitscherten auf den Dachrinnen und flogen auf die Straße herab. Der Wind erfrischte die Wangen mit dem Duft der Wiesen.

Arm war diese Straße, arm sein Arbeitsplatz, seine Wohnung und auch sein Leben, aber es schien, dass jeder Ast eines Baumes schweres Gold darreicht, dass die Straße zum Glück einlädt und dass das ganze Viertel sich in den Schauplatz wundervoller Märchen verwandeln sollte. Doch die Freude verflog.

Wohin geht er? Und wen oder was und für wen soll er suchen? Ist die Welt für Schreiber nicht genauso schön und ist sie nicht schöner als für Herren, die an die Riviera fuhren? Einem einzigen Wesen ist er in seinem Leben begegnet. Das war so bescheiden, wie wenn zwei Kinder sich begegnen. Er tat alles mögliche, damit sie aneinander nicht verlieren. Er ist zwar nur ein Schreiber, aber sie war auch nicht mehr. Was konnte sie werden? Ein Dienstmädchen, ein Kindermädchen, eine Verkäuferin oder vielleicht auch eine Schreibkraft. Vielleicht wollte sie mehr und hatte das Recht dazu, denn sie war schön und jung, gerade erst im Aufblühen. Sie sind nicht auseinander gegangen, sie ist bloß verloren gegangen, aber wie tückisch! Und doch begegneten sie sich in einer Zeit und an einem Ort, die sich beiden tief und für immer ins Gedächtnis einprägen mussten. Doch konnten ihnen niemals jene vielleicht kindlichen und unbeholfenen Küsse von den Lippen gelöscht werden, die an jenem frostigen Novembernachmittag aufflammten. Auf solche Dinge könnte nur ein sehr abgehetzter Mensch vergessen.

Er erinnerte sich, wie er sie suchte, wie er sich nach ihr erkundigte. Es schien ihm, als wäre sie entführt worden, als wäre sie gestorben oder in einem Märchen verschwunden; als hätte ihm alles nur geträumt und als hätte ihm ein unerklärlicher Zauber vorgegaukelt, dass das Wirklichkeit war. Manchmal sah er auch die vertrocknete Blume an wie ein Trugbild, das er jedoch nicht vertreiben wollte. Wenn sie ihn doch wenigstens im Traum besuchte hätte! Er rief sich ihr Bild angestrengt und ungeduldig in Erinnerung: er beobachtete fast mit Entsetzen, dass Einzelheiten ihrer Gestalt und ihres Aussehens aus seinem Gedächtnis entschwunden waren, dass er sie sich nicht mehr vorstellen konnte, dass ihm von ihr nur mehr die Ahnung einer wehmütig-lieblichen Mädchenschönheit verblieben ist, eher nur eine Sehnsucht nach Schönheit als eine bestimmte Schönheit. Schon schien es ihm, dass er sie in der weiten Welt nicht einmal erkennen würde, wenn er ihr zufällig begegnete, und das quälte ihn von allem am meisten.

Und doch war er sich sicher, dass ihn dieses Kind gern hatte, obwohl es vielleicht nicht einmal davon wusste, obwohl es vielleicht sogar davor erschrak. Es sind Blicke, es ist der Klang der Stimme, es ist ein Zittern oder eine Erregung, deren bindende Kraft auf den ersten Blick erkannt wird.

Die Bangigkeit der ersten Liebe festigt jedoch die Treue und Beständigkeit. Sie war allgegenwärtig. Alles, was schön war in den Dingen und Ereignissen, in der Natur und im Träumen, verkündete ihre ruhige Schönheit und geheimnisvolle Allwissenheit. Er wusste, dass sie ihn überall sieht und aus ihren tiefen Augen beobachtet, obwohl er selbst sie nicht erblicken konnte. Er war froh, dass sie ihn sieht, auch wenn er sie nicht sehen kann.

Aber wohin gehen? Aus dem Fenster blicken? Er sieht von weither den Frühling, riecht die würzige Luft, aber sie sieht er nicht und hört er nicht. Wenn er mit geschlossenen Augen sitzen bleibt, wird er alles genauso fühlen. Was gibt ihm die Welt? Soll er etwas suchen und ändern im Leben? Eine Stelle als Vertreter nehmen? Für ihn selbst nicht. Höchstens nur aus dem Grund, dass er vielleicht, vielleicht auf seinen Wegen irgendeinem Wunder auf die Spur käme. Aber was, wenn ihm das unterwegs mehr Enttäuschung und Trauer verursacht als ---

Er zögerte und lehnte sich an den Fensterrahmen.

Da hörte er von unten, irgendwoher aus dem Erdgeschoss, ein Lied. Es sang eine Mädchenstimme und dem Klang nach sang da wahrscheinlich ein Mädchen, das zum Fenster kam und wieder ins Zimmer zurückging. Das Lied nahm ihn mit einer rührend-wehmütigen Melodie gefangen, dann mit den Worten:

Traurig traf ich im Friedhofsgärtlein ein Mädchen,

golden und rot ---   

Das war seltsam und es stand dafür, dass er sich aus dem Fenster beugte. Er wollte dieses Lied hören, vielleicht wollte er sogar noch mehr. Vielleicht wurde es ebenfalls von einem rot-goldenen Mädchen gesungen. Von der singenden Stimme ging so etwas wie ein Rosenduft aus. Im Erdgeschoß gerade unter seinem Fenster putzte ein Mädchen ein Fenster. Sie war fast nicht zu sehen, putzte wahrscheinlich auf der Innenseite, nur Rock und Schürze ragten aus dem Fenster und ließen erkennen, wann sie auf den Zehenspitzen stand, wann sie sich bückte oder umdrehte.

Er hätte gern noch mehr gehört vom Lied des rot-goldenen Mädchens, aber die Stimme verstummte, der Körper des Mädchens glitt hinter den Fensterrahmen ins Zimmer zurück, und schon schien es, als wäre alles zu Ende, da stieg von drinnen die Gestalt wieder herauf, die welligen Haare schimmerten in mildem Glanz und ein nackter Ellbogen stützte sich am straßenseitigen Fensterrahmen ab.  Eine Zeit lang blickte sie anscheinend in der Straße umher, in der aber niemand ging. Dann hob sich die andere Hand. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, beugte den Kopf vor, blickte auf die Fensterscheibe und bewegte die Hand sorgfältig und fleißig, ihre Brauen hoben sich, der Mund war still und es schien, als ob sie irgendeine geheimnisvolle Arbeit zur Verschönerung eines goldenen und kristallenen Hauses verrichtete wie das Aschenbrödel vor seiner Hochzeit. Aber nach oben blickte sie nicht und die Wimpern ihrer Augen verdeckten ihre Seele wie lange, dunkle Kiefernnadeln. Es war die ruhige, weiße Stirn zu sehen, der rosige Schimmer der Wangen, die feine Anmut des Gesichtes, schutzlos, wie von einem Stein gefährdet, einem herabfallenden Ziegelstein oder Kuss. Aber am meisten war der goldene und zarte Liebreiz der Haare auf dem Scheitel des Kopfes zu sehen, von denen jedes glänzte, sich lebhaft und bezaubernd rankte und wand, jedes war ein Märchen, ein Strahl mädchenhafter Armut, jedes war unsterblich.

Plötzlich kam ihm der Gedanke: ein Dienstmädchen! Er presste die Lippen zusammen. Er ärgerte sich über sich selbst. Die getrocknete, halb zerdrückte Blume fiel ihm aus der Hand und flatterte langsam hinunter.

Die Gestalt des Mädchens, die sich gerade bückte, vielleicht um das Wischtuch auszutauschen, richtete sich auf, als das vertrocknete Blümchen auf den Rand der Locken über ihrer Stirn herunterflatterte und über das Gesicht rutschte. Sie fuchtelte mit dem Wischtuch, in der Annahme, es sei eine Fliege. Die Blume blieb am Wischtuch hängen, die andere Hand ergriff sie, eine Weile war ihr ganzer Körper regungslos vor Überraschung, dann erhob sie sich vollends, trat hervor, schaute, das Gesicht leuchtete auf und die ganze Schönheit entfaltete sich, funkelnd in der Glut des Errötens, des Lachens, der Neugier und auch der Angst.

Er gewahrte kaum das feine, unmerkliche Lächeln um ihre Lippen, die in diesem Augenblick tiefgolden schimmerten. Suchte sie nach einem Wort, wirklich nach einem Wort? Errötete sie? War dies ein Augenblick kindlicher Sehnsucht? Manchmal verschwand sie still vom Fenster, beinahe unsichtbar und unkörperlich, so dass es schon schien, als käme sie nicht mehr heraus, dann stieg sie wieder herauf, arbeitete, hielt inne, wartete ab. Oder war das eine Erwartung?  Erwartete sie eine Antwort, oder hatte sie schon längst eine Antwort und antwortete ihm nun selbst auf die Frage, die er niemals aussprechen konnte?

Für wen blüht sie? Wer wird sie pflücken und verdorren lassen? Nein, er wird sie nicht pflücken. Aber soll ein anderer sie pflücken? Er wollte sie bedauern. Aber plötzlich bedauerte er sich selbst.

Er erinnerte sich an die Armseligkeit des menschlichen Körpers, daran, dass der Mensch seines Schicksals würdig ist, dass ein Dienstmädchen wieder nur ein Dienstmädchen ist, dass ihre Seele ihrem gesellschaftlichen Status entspricht, die Schönheit nur ein Schein und wertlos ist. Er kann ihr wie einem namenlosen Kind nur Gottes Segen wünschen, das genügt.

Noch einmal blickte er hinaus, wie zum Abschied. Sie war nicht mehr da. Die lebendige Stille der Straße und des Hauses verwandelte sich in Grabesstille. Nein, sie hat nicht mehr herausgeblickt; anscheinend ist das untere Fenster nun geschlossen. Beklommenheit ergriff ihn. War es nicht das Bild seines Gewissens? Ist sie nicht deshalb verschwunden, weil er sich von der Armut der Fremden lossagte, weil er über sie dachte wie ein Heuchler? Das untere Fenster ist geschlossen: es wird sich wahrscheinlich nicht mehr öffnen. Er machte auch sein Fenster zu.   Sein erregtes Gemüt trieb ihn hinaus. Er ging die Treppe hinunter und kam in den Hausflur. Plötzlich öffnete sich im Erdgeschoß eine Tür mit katzenhafter Lautlosigkeit, und im richtigen Moment, damit er sie bemerken konnte, bevor er zu ihr kommt, tauchte ein Mädchen auf, lehnte die Tür an, behielt aber die Hand an der Klinke und sah ihn mit blauen Augen an. Er erschrak. Ein goldener, gedämpfter Sopran schwang still und aufmerksam im ganzen Körper des Mädchens, in den Wimpern, in den Locken und auf den Lippen. Sie erschien bleich, aber plötzlich leuchtete unter ihren Augen ein rosenrotes Wölkchen auf. Das ganze Blut schoss ihm in den Kopf. Sie schlug die Augen nieder, aber kaum eine Sekunde; auch er schlug sie nieder, aber für mehrere Augenblicke; er wollte weitergehen, als wäre nichts, aber das ging schlecht. Als er direkt neben ihr war, zuckten ihr die Hände, als wollten sie ihn anfassen. Und da sah er ein Lächeln, so glückselig, so freudig, dass diese Freude auch ihn durchströmte. Jetzt hätte er ihr nichts sagen, sie nicht einmal ansehen können. Er ging. Er fühlte, dass sie ihm nachblickte; er selbst war ebenfalls versucht, zumindest verstohlen zurückzublicken, aber er erblickte nur ihre Füße und ihre Schürze; mehr wagte er nicht.  

Als er auf die Straße ging, fühlte er sich froher und es war ihm zum Lächeln zumute. Nicht darüber, dass er alles so schnell und vollständig verspielt hatte, was er in diesem Augenblick verspielen konnte, als vielmehr darüber, dass er so schnell dafür bestraft wurde, dass er verächtlich über das arme und unbekannte Dienstmädchen urteilen wollte. Er ging in die Stadt, in die Straßen, er sah sich die Läden und Schaufenster, Häuser und Leute an, ohne sie bewusst wahrzunehmen. Er sah ein glanzvolles Juweliergeschäft; beachtete aber die mit Perlen und Diamanten besetzten Schmuckstücke kaum; sie erschienen blass, nachgeahmt und wertlos; nicht weil sie nachgeahmt waren, sondern weil sie sich dadurch von echten in nachgeahmte verwandelten, dass sie in den menschlichen Handel gelangten. Er blieb vor einem der Schmuckstücke stehen und betrachtete es mit selbstbewusster Verachtung, wie wenn er dergleichen Dinge schon zu Tausenden in der Hand gehabt hätte. Eine Dame mit einem grünen Mantel, ziemlich rothaarig und pompös, hielt sich in seiner Nähe auf und bemühte sich, den Hochmut seiner Pose durch den Hochmut ihrer Pose zu übertrumpfen, wobei sie sein Bild in der Schaufensterscheibe betrachtete, darin aber nur ein Grinsen erblickte. Er sah ein anscheinend ganz neues Auto, in dem jemand mit großem Glanz chauffiert wurde. Die Leute begafften das luxuriöse Auto, er gesellte sich lässig zu ihnen, der Chauffeur hupte ihn an, aber er ging so sicher und sah so geringschätzig auf den Chauffeur herab, dass es dieser vorzog, ihm wütend auszuweichen. Mädchen gingen spazieren. Seidenstrümpfe und der Glanz von Lackschuhen, Augen und Bändern schufen eine abwechslungsreiche Stimmung, Blicke wurden nachgesandt und wieder abgewandt, Geflüster, Gelächter und auch Mädchenschreie vermischten sich mit dem Lärm der Fuhrwerke, über der Stadt glänzte der Frühling, junge Mädchen kamen mit sichtlichem Wohlbehagen so nahe, dass es genügte, die Hand auszustrecken oder vielleicht auch nur wie beiläufig mit dem Ellbogen anzustreifen, und mehr wäre nicht nötig gewesen, alles wartete vielleicht schon selbst darauf. Er hörte eine Weile zu, als wollte er die Mädchensprache lernen, eine unbekannte Sprache, deren Wortschatz und Grammatik noch niemand niedergeschrieben hat. Er war hier ein Fremder mit einer gewissen Zerstreutheit, Unachtsamkeit und Scheu, welche er unter der verächtlichen Kälte seines Blicks nicht verbergen konnte. Er zog nicht wenige Blicke auf sich; einige schienen ihm sogar zugetan zu sein in ihrer neugierigen Freimütigkeit. Das freute ihn, aber noch mehr erweckte seinen Stolz die Erinnerung an das, was er schön fand an den Augen jener, welche ein Dienstmädchen und dabei die schönste war, welche die Schönste und dabei ein Dienstmädchen war.

Er bog in eine Seitengasse mit einem Kloster und alten Häusern ein, vor denen in Gärten Sträucher blühten und einen beklemmenden, wehmütigen Duft ausströmten. Vielleicht wollte er einige Pläne für die nächste Lebensphase beginnen und weiterspinnen.

Er stieß jedoch mit dem Schreiber zusammen, mit dem er die ganze Woche hier bei der Kommission am gleichen Tisch geschrieben hatte. Der Kollege war nicht nur sehr gesprächig, sondern die Art, wie er ging, blickte und gestikulierte und auch seine übermäßig laute Stimme verrieten schon von weitem seine subalterne Kumpelhaftigkeit. Dieses Verhalten des Kollegen verdarb ihm nicht nur die Laune, sondern gefährdete auch sein Inkognito. Darum ging er lieber mit ihm in die Kneipe, um beim Aufräumen zu helfen. Der Kollege wusste zu viele Dinge, sprach von ihnen in Fachausdrücken, die er anderswo aufgeschnappt hatte, fühlte sich stark, wenngleich unglücklich verhaftet mit seinem gesellschaftlichen Status, vergaß aber andrerseits nicht, sich eines Schicksals zu rühmen, das ihm ein angenehmes Leben gewährt, er redete verächtlich über Frauen, aber mit der sicheren Erwartung einer anständigen Mitgift, die sein Ansehen erhöhen wird; er kam stets auf seine Kanzleiarbeit zurück und imitierte verschiedene Chefs, die nur von dem reden, was im Büro passiert. Zu guter Letzt wurde eine Billardpartie begonnen, bei der sein Kollege mitspielte.

Sie hatten Bier getrunken, ohne etwas dazu zu essen, und weil es warm war, wirbelte es das Blut auf. Solange er zugehört hatte, wechselten sich in ihm Langeweile und auch Erinnerungen und Überlegungen über verschiedene Schicksale ab. Unter seinen Kollegen konnte dieser vielleicht ein Pfundskerl sein; es kann auch sein, dass er eine schöne und reiche Frau heiraten wird; wer weiß. Er verließ die Kneipe. Es war bald sechs, da werden die Geschäfte schließen. In den Straßen rauschten Frühlingslieder. Er blieb vor einer Blumenhandlung stehen, weil ihm ein Duft entgegenwehte; er wollte etwas kaufen, aber es war nicht recht sinnvoll. Für sich in der Wohnung brauchte er nichts, weil er ja gerade abreisen musste; und für dieses Mädchen? Was würde sie damit machen und wohin würde sie es geben? Sie wird doch nicht zum Küchenfenster einen Kamelienstrauß stellen! Er ging weiter; der Goldschmiedeladen, an dem er vorhin achtlos vorbeigegangen ist, lockte plötzlich mit reizvollem Charme. Da waren Ohrringe mit Perlen wie noch nicht aufgeblühte Maiglöckchen und mit Steinchen aus der Liebeskrone. Da waren Ringe aus mattem und edlem Gold mit Steinen, die eine geheimnisvolle Bedeutung hatten. Dann billigere, halbvergoldete Ketten mit Herzchen und Medaillons, die ihren Glanz entfalteten für arme Augen und für arme Freuden. Er hatte Geld bei sich. Es war nicht mehr lang bis zum Ersten und er hatte genug Prämie und Reisegeld für auswärtige Arbeit zu erwarten. Da gab es Schmuckstücke, bestimmt für eine unbekannte Liebe, eine unbekannte Schönheit, ein unbekanntes Glück. Alle mussten auf den für sie bestimmten Platz warten, vielleicht noch jahrelang. Bis dahin blühen Tausende Blumen und gehen Tausende reizvolle Morgen und Abende vorüber. Welche von diesen Augenblicken und welche von diesen Blumen werden die seinen sein? Er wollte schon im Voraus ein Geschenk für die ferne Geliebte vorbereiten und sie insgeheim beschwören, dass sie in Gesundheit und mit ihrer ganzen Kraft zu ihm käme. Es schien ihm, dass er ihr noch heute begegnen werde und dass sie am Abend aus tiefer Finsternis wie ein Licht im dunklen Flur erscheinen werde. Er griff nach seiner Geldbörse und wollte schon in den Laden treten, als er sich erinnerte, dass er im Begriff war, einen Verrat zu begehen.

Er erriet, dass er sich zu schnell von den zwei blauen Augen der opalfarbenen Blume betören ließ, dass ihn das verwandte Blut der Armut allzu leicht das eigentliche Wesen des Flirts vergessen lässt. Es ist wahr, dass sie ihn so stark bezaubert hatte, dass er es als Glück betrachten kann, dass das im letzten Augenblick vor der Abreise geschah, die eigentlich eine Rettung sein wird. Es ist wahr, dass er gern dem Zauber dieses holden Blicks so lang erlegen wäre, bis sie sich zusammen dem Schicksal unterworfen hätten. Aber weiß er denn sicher, dass er nie mehr mit jener zusammentreffen wird, die ihm entfloh mitsamt seinen Küssen, die so stark sind wie ein Gelöbnis? Wenn ihm nach einer Weile ein goldenes Juwel in die Hände käme, vielleicht in einer Samtschatulle, würde er dessen zauberhaftes, verführerisches und gefährliches Feuer so unwiderstehlich fühlen, dass das Juwel zwar an eine liebe und schöne Stelle gelangte, aber als Betrug. Ein solches Geschenk bedeutet etwas, aber wenn er die Erste fände, müsste er die Zweite verraten. Wenn auch nie jemand davon wüsste, er selbst wüsste es. Gerade der ersten Geliebten könnte er dieses Schmuckstück nicht verbergen, denn er würde sich erinnern, dass ihm damals, als er es kaufen ging, die Augen, das Herz und die Seele vor Sehnsucht nach der Schönheit der Fremden brannten.

Und in der Tat, die Versuchung brannte, als wären alle Häuser voller Rosen, deren süßer Duft schmerzlich und selig die Straßen durchzog. Er konnte sich nicht losreißen; er hoffte, dass die Versuchung so stark würde, dass sie ihn in den Laden treibt, und kaum hatte er sich das gewünscht, als die Verkäuferin aus dem Laden kam und ihm vor der Nase den Rollladen herunterließ. Vielleicht hätte er das missachtet, noch war es möglich, in den Laden zu schlüpfen, aber die Verkäuferin sah ihn irgendwie abweisend an, es erschien ihm plötzlich dumm und er ging weiter.

Noch nicht alle Geschäfte waren geschlossen. Vor dem Schaufenster einer großen Delikatessenhandlung betrachteten junge und auch ältere Leute einerseits sich selbst im geschliffenen Spiegel, andrerseits die appetitlich herausgeputzten Käse, Bratwürste und Süßigkeiten. Er erinnerte sich, dass er einst an einem regnerischen Abend, als ihn eine seltsame Sehnsucht auf die Straße trieb, in einem solchen Geschäft zum ersten Mal sein Glück oder Unglück erblickte. Damals war herbstliches Regenwetter. Oh, dieser Regen! Wie oft hatte er sich schon gesagt, dass es ihm damals das Glück geregnet hat, dass ihm in jenem Regen zwei Veilchen erblüht sind. Wo sind sie wohl!

Aber die Veilchen waren in unbekannter Ferne, in der viele Dinge verblassen, und heute war Spätfrühling und einige Rosen in den Gärten hatten bereits Knospen. Die Rose! War sie weiß, oder rosenrot, oder golden? Sie war arm und unermesslich reich, ergreifend und rein, voll Sehnsucht nach Freude und Liebe mit der Demut eines Waisenmädchens und mit einem Lächeln des Glaubens an die Liebe. Warum ist er ihr begegnet, warum mussten sie beide staunen über sich selbst und dann einander zulächeln, wie wenn solche Dinge auf Erden im Menschenleben geschehen dürften? Begeht er damit nicht etwas, das er rechtfertigen muss? Was, wenn sie ihn wirklich gern hat, wenn sie sich einer Hoffnung hingibt, die er enttäuschen muss, wenn sie ihm Freude bereitet, die er zurückweisen muss, und ihre Sehnsucht sich in Asche verwandelt, weil nicht einmal der, der den Körper verführt, so viel Leid verursacht wie der, der die Seele verführt, obwohl er den Körper nicht einmal berührte. Sollte er sie nicht irgendwie versöhnen, sich bei ihr bedanken und ihr etwas Herzliches zum Abschied sagen? Das hat sie sich doch für dieses Lächeln und für diese Begegnung im Flur verdient und er war es ihr schuldig. In der Auslage leuchtete eine Schachtel Schokoladebonbons mit buntem Flitterglanz als Lockmittel für Kinder und Mädchen, ein kleines, aber fröhliches und liebes Geschenk. Aber vielleicht kann ein buntes Flittergold, das in die Kiste neben dem Herd geworfen wird, die argwöhnische Neugier ihrer Hausfrau erwecken. Neben dieser Schachtel war eine andere, mit schokoladeüberzogenen Datteln.

Er ging in den Laden. Im Laden waren in dieser vorabendlichen Stunde ziemlich viele Leute. Neben ihm kaufte gerade ein Mädchen ein. Er wartete, bis er bedient werde, aber da kam ein anderer Ladengehilfe und fragte, womit er dienen kann. Er fühlte, dass das Mädchen neben ihm, während man ihm die Ware einpackte, verstohlen zusah. Er hatte Datteln mit Schokoladeüberzug verlangt, und er wusste, dass das ein Naschwerk war, von dem bekannt ist, dass junge Männer es in der Regel nicht für sich selbst kaufen, und er bemerkte auch, dass ihm ein Mädchen zusah, sicherlich neugierig und spöttisch, wie einem Mann, der einem Mädchen ein Geschenk kauft. Der andere Junge war etwas umständlich, wickelte das Gekaufte mit ständigen Fragen und Angeboten in ein dreifach gefaltetes Papier ein, so dass sie zur gleichen Zeit zur Kassa kamen. Das Mädchen zahlte zuerst. Sie trug ein hellblaues Kleid und eine weiße Schürze, aber keinen Hut. Sie ging jedoch nicht gleich aus dem Laden, sie hatte viele Geldscheine von geringem Wert bekommen, die sie sorgfältig in eine kleine Geldbörse stopfen musste. Er gelangte früher zur Tür, aber sie näherte sich auch dem Ausgang, die Augen auf die Geldbörse gesenkt, die sie nun verschloss. So geschah es, dass er die Tür, als er sie hinter sich schließen wollte, offen halten musste, damit sie durchgehen konnte, und während er die Hand noch an der Klinke hatte, hob sie die Augen und richtete sie unwillkürlich auf ihn.

Das hatte zur Folge, dass er vergaß, die Klinke loszulassen; bei einer Vorwärtsbewegung berührte sie ihn mit ihrem Kleid, konnte aber nicht weiter.

„Bitte,“ sagte sie mit ungezwungener Höflichkeit, während sie ein Lächeln im Zaum hielt, das in ihren Augen aufflammte und um ihre Mundwinkel zuckte.

Aber in höchster Verlegenheit schoss ihm ein glücklicher Einfall durch den Kopf. Als er das Wort gehört hatte, fand er es zunächst unecht, dann aber doch echt. Er trat auf den Gehsteig hinaus, machte Platz und wartete. Das Mädchen blickte erstaunt. Es gelang ihm so schön, ihr zu sagen, dass sie Dornröschen sei, dass ihr das zu Herzen ging; sie errötete, und dass das nicht aus Ärger geschah, zeigte ihr heller, freundlicher Blick.

„Aber ich heiße nicht Dornröschen. Und ich muss nach Hause eilen.“

Er erkannte, dass das eine Entschuldigung war, nicht eine Ausrede.

„Fast hätte ich Sie im Geschäft nicht einmal erkannt“, leitete er die Rede auf etwas anderes.

„Ich Sie allerdings auch nicht,“ sagte sie und da schaute er sie genauer an; er versuchte sich zu erinnern, welches Kleid sie am Nachmittag anhatte, aber er konnte sich nicht erinnern. Wie konnte er sich so täuschen! Aber er antwortete ihr schmeichelnd, während er versuchte, ihre flinken Schritte zurückzuhalten. Sie blieb stehen und reichte ihm die Hand, bittend aber auch entschlossen:

„Ich bitte Sie, gehen Sie trotzdem nicht so mit mir!“

Er nahm die Hand und drückte sie.

„Warum nicht?“

„Nein, hier kennt mich jeder! Ich danke Ihnen!“

Sie wollte sich losreißen, aber er ließ sie nicht.

„Lassen Sie mich los!“

„Ich lasse Sie nicht!“

Sie biss die Zähne zusammen und schien wütend zu sein. Sie riss an der Hand, aber plötzlich besann sie sich und sagte:

„So kommen Sie halt!“

Sie gingen über den Platz; es schien beiden Spaß zu machen, dass sie einerseits Ärgernis und andererseits Neid erregten, durch die Ungleichheit der Kleidung, durch Freude, Schönheit und Stolz. Sie blieben vor Auslagen stehen, vor allem vor Kurzwarengeschäften und Blumenhandlungen. Sie sprachen über Blumen, weil Blumen einen schönen Anlass bieten zum Lob der Schönheit, besonders der Schönheit der Mädchen. Sie bogen in eine ruhige Seitengasse ein und gingen weiter, wobei sie sich zuweilen lächelnd und errötend aneinander schmiegten. Der blaue Himmel verdunkelte sich in der Abenddämmerung. Verspäteter Flieder verblühte.

Sie gingen weiter, aber in eine ganz andere Richtung als dorthin, wo das Haus stand, in dem er abgestiegen war; und schon durchquerten sie auch die Vorstadt. Es erschien ihm seltsam, wo sie denn hier wohnte, aber je weiter sie noch zu gehen hätten, umso reizender wäre es. Aber dass sie immer wieder lächelnd und schweigend zurückblickte, erschien ihm rätselhaft. Als sie schon das letzte Haus am Rande der Stadt vor sich hatten, sagte sie entschieden:

„Aber jetzt muss ich wirklich schon nach Hause gehen!“

Bei diesen Worten wandte sie sich um in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

„Und wohin?“, stieß er fröstelnd hervor.

Sie begann zu lachen. Bis Wehmut aufkam bei dem Gedanken, dass dieses Lachen nicht ewig dauern wird. Als sie sich ein wenig gefasst hatte, so dass nur noch ihre Brüste eine Zeitlang lachten wie sturmgeschüttelte Rosenzweige, jubelten ihre Augen noch, obwohl sie sie lieber ein wenig schließen wollte, aber nicht konnte, weil ihre Freude so stark war. Sie nahm ihn am Arm und führte ihn mit sich. Sie gingen zurück.

„Mir scheint, dass Sie sich geirrt haben. Haben Sie sich nicht geirrt?“ fragte sie mit einer klaren und schönen Stimme, deren Klang verschmolz mit dem regenbogenfarbigen Gold auf ihrem Gesicht und auf dem blendend weißen Schimmer des Halses. Ihre Hand war warm, aber fest.

„Ach was!“ sagte er mit einem Lächeln. „Sie haben so viel Liebreiz, dass Sie davon allen Mädchen in der Stadt etwas abgeben könnten.“

„Und Ihnen würden dann alle gefallen?“ neckte sie ihn.

„Nein, von allen nur Sie. Mir scheint, dass Sie sich gut verbergen können und dafür nicht einmal einen Schleier brauchen.“

„Und Sie hätten mich nicht erkannt, außer jene Fliege aus dem Märchen hätte sich auf meine Nase gesetzt?“

„Knospe - !“

„Sagen Sie zu jedem Mädchen Knospe?“

Seine Stirn umwölkte sich ein wenig.

„Ich bitte Sie, wo haben Sie sich so lange verborgen, dass ich Sie nicht gesehen habe, und ich bin schon eine Woche hier!“

„Dafür habe ich Sie gesehen und jeden Ihrer Schritte gehört, wenn Sie im Haus gewesen sind. Heute werden Sie schon abreisen, oder?“

„Leider!“

„Sie haben mir ein getrocknetes Gänseblümchen aus dem Fenster auf den Kopf fallen lassen, als ich das Fenster geputzt habe. War das irgendeine ihrer Erinnerungen?“

„Quälen Sie mich nicht damit!“

„Ach ja! Ich weiß schon!“

„Was wissen Sie?“

„Schauen Sie mir in die Augen!“

Sie stellte sich ihm in den Weg und hielt ihre Tasche vor die Knie. Hätte sie in diesem Augenblick gegen ihn ausgesagt und ihn des Mordes oder des fürchterlichsten Verbrechens beschuldigt, so hätte er sich ihre Aussage wie das schönste Märchen anhören und sich dann ruhig hängen lassen wollen.

„Sprechen Sie oder ich gehe,“ drängte sie auf Antwort.

„Wenn Sie es unbedingt wissen wollen, nun, Sie haben gut geraten.“

„Ha! Beichten Sie!“

„Warum nicht? Aber werden Sie mir die Absolution erteilen?“

„Ich werde sehen!“

Er wollte nur schnell das seltsame Schicksal seiner ersten Liebe erwähnen. Aber sie war allzu neugierig, unterbrach ihn, hielt manchmal ihre und seine Schritte an und erkundigte sich nach Einzelheiten. Sie wollte mehr wissen, als er selbst wusste.

„Und jetzt gefällt sie Ihnen nicht mehr?“

Das verblüffte ihn. Aber sie verwickelte ihn noch mehr und er musste ehrlich sein, denn ihr Blick und ihre Stimme waren auch ehrlich. Sie fragte, was er alles tat, um sie zu finden, um etwas über sie zu erfahren oder um ihr wenigstens eine Nachricht über ihn zukommen zu lassen. Er gestand, was er alles getan hatte, aber ihr schien das alles zu wenig.

„Ich denke, wenn Sie sie wirklich gern hätten, würden Sie sie doch immer noch suchen.“

„Aber raten Sie mir doch, wie?“

„Ich soll Ihnen raten? So sind Sie also zu mir gekommen, damit ich Ihnen rate, wie man ein verlorenes Mädchen findet? Warum gerade zu mir?“

„Verzeihen Sie, aber ich meine, dass ich sie nicht mehr finde.“

„Sie wollen sie nicht finden, gelt? Und da wollen Sie mir weismachen, wie treu Sie lieben können! Und da wären Sie mir schön treu gewesen!“

„Ach, gewiss wäre ich, aber Wunder geschehen nicht!“

Da rief sie:

„Wirklich nicht?“

Er konnte die Zunahme ihrer Schönheit anhand der Abnahme seines Selbstbewusstseins ermessen. Sieh da, das war wirklich das Aschenbrödel aus dem Märchen, würdig eine Königin zu werden.

„Ich weiß, dass Ihnen das schwer fällt. Aber Sie wissen doch: Wohin der Teufel nicht kann, dort schiebt er ein Weib vor. Und Frauen haben Sie nicht gefragt?“

„Ich bitte Sie, wenn Sie auf alles Rat wissen, helfen Sie mir!“

„Ich? Warum ich?“

„Machen wir eine Wette: Wenn wir sie auf Jahr und Tag nicht finden –„

„Dann?“

„—dann werden Sie mein sein!“

Sie lachte auf und dann lachten sie beide. Sie gingen durch die Ahorn- und Lindenallee. Sie ließ sich küssen, fast so, als ob sich das von selbst verstände.

„Würden Sie sie erkennen?“ Sie blieb vor ihm stehen und hob die unermüdlichen Augen zu ihm auf.

Er sah ihr in die Augen.

„Nicht sehen Sie mich an und denken an sie! Würden Sie sie erkennen?“

„Weiß Gott! Ich weiß es nicht!“

„Und würden Sie mich erkennen?“

„Aufgrund der Schönheit gewiss, denn –„

„Den Teufel würden Sie erkennen,“ antwortete sie mit einer auf einen samtenen Alt gedämpften Stimme, um sie sogleich in einen goldenen Sopran zu erhöhen: „Gerade vor einer Stunde haben Sie mich nicht erkennen können. Im Laden haben Sie nicht gewusst, ob das ich bin oder nicht. Absichtlich habe ich Sie so weit geführt, bis ans andere Ende der Stadt, und Sie haben sich irremachen lassen. Aber ich muss jetzt nach Hause fliegen, ich werde etwas abbekommen!“

Ohne zu überlegen flüsterte er:

„Mein Knösplein, warte noch!“

Da schien es, dass sie Tränen in den Augen hat. Sie zitterte ein wenig. Aber bald hatte sie sich wieder gefasst.

„Geh und finde dein verlorenes Mädchen! Es wird dich gern haben! Sie ist gewiss nicht gestorben, hat auch nicht geheiratet, und hübscher bin ich vielleicht auch nicht!“

Schon näherten sie sich dem Haus. Bitterkeit, Glück, Liebe und Abschied legten sich mit der Dämmerung des Abends schwer auf das Herz.

„Sollen wir uns denn nicht mehr treffen?“ fragte er. „Wirst du nicht Sehnsucht haben?“

„Ich werde, sicher werde ich! Denke nicht, dass ich nur lachen kann!“

Er wollte sie zurückhalten, aber sie ging schnell und schlüpfte in den Gang. Gerade noch ergriff er ihre Hand, ehe sie sie auf die Türklinke legte.

Sie wandte sich ihm mit dem ganzen Körper zu, von dem ein jugendlicher Duft von Reseda und Minze ausging, mit einem Lächeln, das Schmetterlinge und Rosen anzog, und sie wartete. Er wollte sie küssen, aber die Tür war schon halb offen; sie wich aus. Nur ihre Hand konnte er küssen.

„Vergelt’s Gott,“ sagte er und wollte schon gehen.

„Ich hätte fast noch etwas vergessen!“ Und er überreichte ihr die eingepackte Schachtel.

Sie nahm sie, lachte und schlüpfte in das Zimmer. Er blickte sich noch um. Sie sah aus der Tür zu ihm heraus.

Er kam nach Hause. Er setzte sich auf das Sofa und ruhte sich aus; Falter, Rosen und Opale blitzten in den Flammen und in Liedern auf. Er lauschte sorgfältig auf jedes Geräusch im Haus und suchte zu erraten, ob sie nicht mit dem Kohlenkübel klappert, ob sie nicht um Wasser geht, ob sie nicht in der Küche herumgeht, ob sie nicht mit ihrer Hausfrau redet. Jedes Geräusch verwandelte sich in einen Ton unbestimmter Beklommenheit. Es wurde finster. Das ganze Haus war verzaubert. Es verging vielleicht eine Stunde oder mehr. Er hörte die Uhr schlagen aus dem Nebenzimmer und von den Türmen der Stadt. Er musste an das verlorene Mädchen denken, und daran, wie sich der leblose Körper im Sarg anfühlen würde. Und unten in der Küche wird heute am Klappbett ein lebendes Märchen schlafen und an ihren wunderschönen Wimpern werden im Traum langsam kostbare Tränen trocknen.

Plötzlich schlug es dreiviertelneun. Er saß im Dunkeln. In einer halben Stunde wird der letzte Zug gehen. Er musste sich schnell von der Quartiergeberin verabschieden. Sie wollte ihn mit einem Licht begleiten, aber er lehnte ab. Er ging die Treppe hinunter. Sein Herz klopfte, als er über den Flur ging. Da öffnete sich jene glückliche und unselige Tür, ein Lichtstreifen blendete die Augen und mit katzenhafter Zartheit und Vorsicht schlüpfte seine zweite Geliebte aus dem Zimmer in den Flur. Sie schloss die Tür, im Flur wurde es dunkel, aber trotzdem gab es genug geheimnisvolles Licht, damit beide über die bedeutungsschwere Schönheit dieses Augenblicks staunen konnten.

„Du gehst schon? Ich habe achtgegeben, wann du gehst. Denk also daran, was ich dir gesagt habe!“

„Und wenn ich es nicht herausfinden werde, dann gilt es?“

„Du wirst sie finden, du wirst sie finden, denk nur nicht an eine andere!“

Er wollte sie an sich drücken und küssen, aber sie wich aus und reichte ihm nur die Hand.

„Geh schon, geh, du wirst zu spät kommen, du musst dich jetzt sehr beeilen!“

Er küsste ihr noch die Hand und musste sich wirklich sehr beeilen. Er blickte zurück; ihr Gesicht und ihre Schürze schimmerten bleich in der Tür. Sie winkte ihm mit der Hand, bis die Straße eine Biegung machte. Er musste nun fast laufen und kam im letzten Augenblick an. Ein Kollege rief ihm aus einem Waggon zu. Er stand aber so, dass er ihn in der Eile nicht sah, und sprang in einen anderen Waggon. Die Tür schlug zu, der Zug fuhr ab.

Im Abteil flackerten die kleinen Lampen der Lokalbahn und die abgewetzten gelben Sitzbänke boten müden Reisenden die dürftige Ruhe eines Armenhauses. Das erinnerte an die Weißhaarigkeit und Verwelktheit des abgehetzten und verkrusteten Alters, das im Anbauschuppen auf Stroh und Pferdedecke stirbt. Es stank nach Rauch, altem Anstrich, stickiger Ausdünstung. Die Fenster waren schwarz und undurchdringlich. Von Zeit zu Zeit wollte ein Funkenregen eine befremdliche Gefahr und Trübsinnigkeit beleuchten. Als ob es draußen keinen Frühling und keine Liebe gäbe. Der Zug fuhr rüttelnd in die erste Station ein. Bisher hatte er sich nicht hingesetzt, und auch den Handkoffer hatte er nur auf die Bank gestellt. Dieses Gefängnis des Zuges glich dem Gefängnis seines Arbeitsplatzes; der Zug und auch die Armut rasten mit ihm in eine Art Sumpf. Aber warum sollte er sich mitreißen lassen? Er erinnerte sich, dass ihm heute sein Chef selbst riet, aus seiner bisherigen Beschäftigung auszusteigen. Er hatte ihm fast schon eine Zusage gemacht und er wird es tun. Wenn er aus der Beschäftigung aussteigt, warum sollte er nicht den Mut haben, auch aus diesem Zug auszusteigen? Immerhin ist morgen Sonntag! Warum ist ihm nicht eingefallen, dass er sich in der Stadt noch ganze vierundzwanzig Stunden aufhalten kann!

Schon näherte er sich der zweiten Station. Wie wäre es hier auszusteigen? Er ist ja noch jung und fürchtet sich in der Nacht nicht. Aber er erinnerte sich an das Verbot. Ach ja, ich muss zuerst mein verlorenes Mädchen suchen. Er besann sich und setzte sich. Der Zug stand nur eine Minute und unter ihm brannte die Bank. Schon sprang er auf, ergriff den Handkoffer und eilte zur Tür, aber da setzte sich der Zug in Bewegung, und als er es geschafft hatte, die Tür zu öffnen, war er bereits in voller Fahrt und es ging bergab. Hinauszuspringen wagte er nun doch nicht, es war finster. Sie fuhren in einen Wald. Der Himmel war hier klarer, hoch über schwarzen Kiefern träumten zumindest blass einige Sterne. Er fühlte, dass ihn die Sünde rief, die Versuchung lockte; er erinnerte sich, wie er vor dem Goldschmiedegeschäft stand und sich wünschte, dass die Versuchung unwiderstehlich wäre. Was nun? Er entschloss sich und stieg in der dritten Station aus. Es war nach zehn Uhr. Im Warteraum rechnete er sich nach dem Fahrplan aus, dass es von da ungefähr sechzehn Kilometer waren. Der nächste Frühzug ging vor acht Uhr; wer würde denn so lange warten! Und wenn er sich auch im Gasthaus vielleicht noch eine Stunde aufhielte und wenn er sich dann wie ein Kranker und Lahmer dahinschleppte, wird er dort spätestens um drei Uhr früh ankommen. Das ist zu früh, er müsste dann mindestens vier Stunden warten, denn es wird Sonntag sein. Er war müde, verstaubt, ungewaschen. Der Weg führt durch den Wald, er könnte im Wald übernachten, er hatte sich ohnehin schon mehrere Jahre danach gesehnt. Aber wer am Sonntag in die Stadt und zur Geliebten geht, muss doch anders hinkommen. Er überlegte, ob er die Nacht im Gasthaus verbringen, sich um drei Uhr früh wecken lassen und dann zu Fuß gehen soll. Das Gescheiteste schien wohl, bis sechs zu schlafen und bequem und frisch mit dem Frühzug anzukommen; da hätte er gewiss nicht viel versäumt. Weil er aber allzu viel überlegte, wählte er das Allerschlechteste; er ging nicht einmal zum Abendessen, obwohl er Hunger hatte, sich dessen aber nicht bewusst war, er erkundigte sich nur, auf welchem Weg er zur Landstraße kommt, und machte sich auf den Weg zur Stadt. Da nächtliche Kälte herrschte, trieb ihn die Landschaft selbst an und die Wälder mit ihrem vielfältigen und unentrinnbaren Zauber wühlten das Blut auf, er hörte ein Uhr nachts schlagen aus der nicht mehr weit entfernten Stadt. Das Pflaster aber war dem hungrigen, unausgeschlafenen und auch schon etwas müden Mann beschwerlich. Um Mitternacht erscheint die Stadt dem fremden und bedürftigen Menschen anders als an den Abenden der Liebe oder an den Morgen der Zufriedenheit. Er hatte ja kein Quartier mehr, und obwohl das keine Katastrophe war, war der Gedanke daran doch unangenehm, denn er war einer von denen, welche die Wohnung kaum alle paar Jahre wechseln und nicht gewöhnt sind, selbst auf Wohnungssuche zu gehen. Wenn ihm nicht soviel am morgigen Tag läge, würde er fast lieber den Rest der Nacht durchwandern.

Er verirrte sich, wahrscheinlich nicht ohne Absicht, in die Straße mit der Linden- und Ahornallee. Es war ihm, als hätte er eine Wallfahrt angetreten. Er erinnerte sich an Menschen, die er an einigen Wallfahrtsorten unter Bäumen und an Mauern schlafen gesehen hatte; alte Frauen, erschöpft und gebrechlich, die sich mit der Ruhe der Frömmigkeit und des Vertrauens in der nächtlichen Kälte unter dem Schutz Gottes erholten, die von weither gekommen waren in harten Schuhen und mit Sternen in den greisen Augen. Schon näherte er sich dem Haus. Er wollte sich auf der Treppe niederlassen und dort träumen. Warum hätte er das nicht tun können! Vielleicht könnte ihn nur ein Polizist daran hindern. Er blickte auf die Fenster, schwarz und geheimnisvoll. Dort liegt sie irgendwo im Bett, das ist sicher. Schläft sie, oder ist sie wach? Wovon träumt sie? Ein Totenkopfschwärmer stieß ans Fenster. Wird er sie nicht wecken? Und wenn er sie weckte, wenn sie bleich und schläfrig im schwarzen Fenster erschiene? Aber vielleicht schläft sie wie eine Blume unter Dornen. Wenn sie von ihm wüsste, würde sie ihn nicht an sich drücken und würde sie sich nicht in ihre Decke kuscheln? Lange stand er vor dem Haus und das Haus war dunkel und geheimnisvoll; es schien, dass es wie Meermuscheln klang.

Wieder schlug eine Uhr. Er zitterte vor Kälte. Er ging, schreckte fast vor dem Klang seiner Schritte zurück, und läutete im Hotel. Er war ziemlich spät aufgewacht, als es acht Uhr schlug. Schnell zog er sich an und ging hinaus. Er wusste, dass ihm heute die Füße wehtun würden, dass er viele Male wird vorbeigehen müssen, ehe er sie erblickte.

Es dauerte jedoch nicht lange, bis er vor der Kirche eine vertraute Gestalt in einem dunklen Feiertagskleid vorbeihuschen sah. Sie lief flink zur Freitreppe der Kirche und verschwand im Gedränge. Er ging ebenfalls dort hinein.

Nach der Messe war er unter den ersten, die herausgingen; er fürchtete, dass er sie übersehen könnte, dass sie ihn durch eine andere Farbe des Kleides verwirren und schnell enteilen könnte; schon hatten viele Leute die Kirche verlassen und nur Einzelne gingen noch langsam hinaus. Er warf noch einen Blick nach drinnen, fand sie aber nicht. Er ging wieder hinaus und blickte von der Freitreppe aus herum. Plötzlich lief er in eine bestimmte Richtung los. Er stieß mit Leuten zusammen. Das Mädchen beeilte sich. Er ging ihr nach, aber sie war schon ziemlich weit weg. Sie gingen um Ecken; immerfort fürchtete er, dass er sie nicht mehr sieht, dass er sie vielleicht in der Ferne aus den Augen verlöre. Schon kamen sie in die Allee. Sie ging so schnell, dass er fast laufen musste. Er begegnete vielen Leuten, auch solchen, die ihn schon kannten. Sie verschwand durch die Tür des Hauses. Lange ging er vor dem Haus auf und ab, aber er wartete vergebens. Sie ging auch nicht zu Mittag um ein Bier. Er musste zum Mittagessen gehen, um sich auszuruhen. Nach dem Mittagessen eilte er wieder zum Haus. Vielleicht hat sie am Nachmittag frei. Er ging zum Haus, wandte sich dann um, um in die andere Richtung zu gehen, als er in der Ferne genügend groß ein Mädchen in einem hellblauen Kleid erblickte; sie eilte dahin, als würde sie vor ihm davonlaufen. Es war ihm rätselhaft, wie sie entkommen konnte; am ehesten war es so, dass sie aus dem Haus ging, bevor er in die Straße kam. Sie entwischte fast, obwohl sie nicht lief, wie ein unerreichbarer Traum, der sich nicht fangen ließ. Er sah sie nur von hinten, hatte keine Gewissheit. Zu guter Letzt, außerhalb der Stadt, wo die Straße sich dem Fluss näherte, schlüpfte sie in den Hof eines kleinen Hauses. Nach langem Herumgehen und Warten umging er die Gärten und ging zum Fluss hinunter, in der Annahme, dass er vielleicht das Häuschen von der anderen Seite sehe, und dass er mehr Glück haben werde.

Aber dort war es ruhig und still, Erbsen und Fisolen und Sonnenblumen und auch Königskerzen waren noch niedrig, die Pfingstrosen hatten erst grüne Knospen, eine Henne stand auf einem Pfahl der Gartentür, jedes Häuschen war anders in seiner stillen und kargen Unordnung, und trotzdem waren alle gleichermaßen geheimnisvoll, auf der Seite zum Fluss hin waren mehr Häuschen als an der Straße und es war nicht leicht, jetzt das richtige zu finden. Die Weiden waren bereits hoch gewachsen und wurden grün und der Löwenzahn leuchtete auf den Gänsepfaden. Der Fluss war ruhig und zahm und der Sonntagnachmittag schmachtete in leichter, bewölkter Müdigkeit.

Er ging wie auf einem verbotenen Weg und dort auf dem Rasen zwischen zwei buschigen und hohen Weidengruppen erblickte er wie ein Traumbild eine alabastern schimmernde Gestalt. Dort saß ein Mädchen im Gras und wickelte ein zerknittertes Hemd auseinander. Ihr Leib war noch nass und gab das gedämpfte Spiel von Licht und Schatten der Sonne und der rasch dahinziehenden Wolken wieder. Die Schultern prunkten in perlenhafter Feinheit und gesunder Kraft. Die welligen Locken waren durch die Nässe dunkler geworden und schmiegten sich an den Nacken wie ein verwunschener Geliebter in die lockigen Haare seiner Geliebten. Das geneigte Gesicht lag im Schatten, nur die Lippen waren durch die Kälte des Bades und des Windes blass wie eine Rosenblüte vor der aufgehenden Sonne. Er wagte sich nicht zu rühren, um sie nicht scheu zu machen. Schon hatte sie das Hemd geglättet und wollte sich still umdrehen und verschwinden, aber das Mädchen hob zuvor den Kopf, bemerkte den Zuseher, drückte das Hemd an die Brüste und streckte ihm trotzig die Zunge heraus.

Ein Lachen erklang; es lachte ein anderes Mädchen, das er von seinem Platz aus nicht sah und das jetzt den Kopf aus den Weidenblättern herausstreckte und wachsam und spöttisch zu ihm blickte. Das Mädchen zog sich schnell an, richtete sich auf, streifte eiligst das Kleid über die Knie, sie errötete und war ein wenig verärgert.

„Gott segne Sie!“ rief er und wollte weggehen.

Aber sie antwortete ruhig:  

„Wenn Sie mir schon bis hierher nachgeschnüffelt haben, dann warten Sie auf mich!“

Sie band sich die Schürze um, zog sich die Schuhe an, ließ die nasse Unterwäsche bei ihrer Freundin, damit sie sie trocknen ließ, und dann ging sie, ohne sich nach ihm umzusehen, eine geraume Weile vor ihm, wobei sie sich einen Schritt vor und neben ihm hielt.

„Nicht einmal die Hand gibst du mir?“ sagte sie und wandte ihm das noch flammende Gesicht zu. Als er sie bei der Hand nahm, begann sie:

„Du bist ein schöner Held! Hast du den Zug versäumt?“

Er gestand alles, auch wie er in der Nacht vor ihrem Fenster stand und rätselte, ob sie schläft oder wach ist.

„Ich habe nicht geschlafen. Warum hast du nicht geklopft?“

Das erschien allzu kühn, war aber auf eine irgendwie folgerichtige Art und Weise fair und schön.

„Du hättest nicht zurückkommen sollen, du hättest mir das nicht antun sollen,“ sagte sie ruhig und vorwurfsvoll.

„Warum?“ fragte er verblüfft.

„Ich bin froh, dass du zurückgekommen bist. Und doch hätte ich dich am liebsten davongejagt. Ich werde keinen Respekt vor dir haben. Aber ich hab dich gern, auch wenn du das nicht verdienst.“

„Aber wer bist du? Woher bist du gekommen und was bist du? Du hast mir über dich noch nichts gesagt und ich weiß nicht einmal, wie du heißt.“

„Weißt du, wie deine erste hieß? Du weißt es nicht! Sobald du kommst, um es mir zu sagen, sag ich es dir auch. Aber du sollst mich nicht mehr quälen! Du sollst wissen, dass auch mir das Herz wehtun wird. Aber du hättest gestern wissen müssen, dass du heute hier sein wirst! Warum bin ich es dir nicht wert gewesen? Gestern sind wir auch diese Allee entlang gegangen und du hast gewusst, dass du am Sonntag nichts zu tun hast. Warum bist du weggefahren? Dann hat es dir leid getan und du bist zurückgekommen, aber ich habe dich nicht mehr erwartet und heute muss ich zu Hause sein. Vielleicht ist das besser. Ich habe Angst vor dir. Warum sagst du nichts? Warum bist du weggefahren?“

„Ich bin der Gewohnheit und Routine erlegen. Ich war von der Vernunft verlassen.“

„Ich bin nur ein Dienstmädchen, aber so dumm wäre ich nicht gewesen.“

„Warum hast du mich nicht erinnert?“

„Ich habe mich gefürchtet.“

„Vor mir?“

„Ja. Weißt du, was das bedeutet, wenn ich dir das sage? Aber gib mir jetzt Ruhe und geh!“

Sie waren tatsächlich schon sehr nah beim Haus und die Hausfrau schaute aus dem Fenster. Sie nahmen nicht einmal Abschied, sondern gaben sich nur die Hand. Er blieb mitten auf der Straße allein.

Er wusste, dass er sehr müde sein wird, und er war froh. Er wollte hinsichtlich seines Schicksals sein Gewissen hart und eingehend erforschen und einen Weg suchen. Er ging umher, machte wohl an die tausend Schritte, aber immerhin ist ein einziges Lächeln des Lebens zumindest eine ganztägige Wanderung mit Hunger und auch Fieber wert. Als es dämmerte, holte er seinen Aktenkoffer aus dem Hotel und ging nun mit dem Aktenkoffer umher. Das war lächerlich, aber er spürte das Bedürfnis, aus Reue über irgendwelche Sünden seine Lächerlichkeit geduldig zu ertragen. Im Haus gingen Gäste ein und aus. Nach Einbruch der Dunkelheit kam eine ganze Gruppe heraus. Dann geschah lange nichts. Es kamen Dienstmädchen aus anderen Wohnungen und blickten aus der Haustür eine Zeitlang auf ihn.

Sie kam, als die Zeit der Abreise schon sehr nahe war. Sie lehnte sich an den Türflügel und er musste zu ihr, obwohl dort in der Nähe ein anderes Dienstmädchen stand. Aber dieses ging nach einer Weile weg, nachdem die erste Neugier befriedigt war.

„Ich gebe dir etwas zum Andenken,“ sagte sie und reichte ihm etwas ganz Kleines in einem Kästchen. „Ich hab es gestern für dich gekauft. Aber gib mir das Ehrenwort, dass du es erst nach einer Stunde ansiehst! Gib es in die Tasche und verlier es nicht!“

Er versprach es und bedankte sich.

„Du hast mir versprochen, dass du es mir sagst, sobald du findest, was du finden sollst. Aber wie vor dem Brot des Herrn, ohne Trick!“

„Aber finde ich dich immer hier, wenn du mir nicht einmal deinen Namen sagen willst?“

„Ich selbst werde dich bestimmt finden! – Und wenn du sie wirklich nicht findest? In einem Jahr und einem Tag?“

„Dann komme ich um dich und ich werde dich nicht fragen!“

Sie lächelte und fügte hinzu: „Ich wollte dir auch einen Strauß Blumen mit auf den Weg geben. Aber die Tulpen sind schon verblüht! Geh jetzt! Und wage es nicht, morgen wieder zurückzukommen! Leb wohl!“

Wieder wollte er ihr die Hand küssen. Sie bemerkte, dass das Mädchen hersah; sie drückte ihn weg.

„Nicht einmal ein Küsschen gibst du mir? Muss ich dir denn auch das sagen?“

 

Er saß im Zug und zog jeden Augenblick die Uhr aus der Tasche, denn er wollte wenigstens das kleine Versprechen ehrlich erfüllen. Als eine Stunde vergangen war, wickelte er das Kästchen aus dem Seidenpapier. Auf ihm stand der Firmenname des Goldschmieds, bei dem er es sich am Tag zuvor so schwer überlegt hatte. Da fröstelte ihn. Darin war ein goldener Fingerring mit einem Stein, klein, aber schön. Und er passte genau auf seinen Finger.    

 


 

 

Kapitel III

 

Als in einem Hungerjahr, in dem die Löhne sanken, die Abgaben stiegen und zwischen Selbstständigen und Arbeitnehmern eine starke Rivalität aufkam, einer Genossenschaft ehemaliger Angestellter die Bewilligung zur Eröffnung eines Bäckerladens erteilt wurde, hatten sie zunächst noch kein Geschäftslokal, sondern nur  eine hölzerne Bude, in der für Mensch und Ware Platznot herrschte. Arbeiter bewarben sich, aber aus Geldmangel wurde das Backen an einen alteingesessenen Gewerbetreibenden vergeben, der nicht auf einen großen Umsatz, sondern auf einen großen Gewinn achtete. Die Genossenschaft begann einen kleinen Laden mit Blechdach zu bauen, etwa zur Hälfte mit Ziegeln und dazu mit ein wenig schlechtem Beton, den der Baumeister beisteuerte. Als sie auch einen Ladentisch, Regale, eine straßenseitige Eingangstür, ein Schaufenster und eine Tür zum Lagerraum in der hinteren Hälfte des Gebäudes hatten, schien es, dass dieser Angriff auf die alte Weltordnung Erfolg haben wird. Am Anfang sind wegen der Streitigkeiten in der Stadt viele in jene Geschäfte geströmt und haben teure Ware gekauft, die kaum besser war als anderswo, von der aber kein Gewinn zu den gehassten Altunternehmern floss. Bäckergehilfen in weißen Schürzen, mehlbestaubten Kleidern und Schuhen und mit mehlbestaubten Bärten, brachten die Waren in den Laden. Oft hatten sie noch nicht einmal den Korb vom Rücken genommen und die Semmeln und Kipferl in das Fach geleert, als sie wegen des Andrangs der Leute selbst Kunden bedienen und Geld entgegennehmen mussten und sich dabei gegenseitig und mit den Käufern im Weg standen. Der Geschäftsführer sah es einerseits mit Freude, dass im Laden Leben herrscht, andererseits mit schmerzlicher Sorge, dass sich Gesellen und Arbeiter nicht als Verkäufer bewähren und den Gewinn nicht vergrößern. Glaser und Anstreicher machten gerade das Schaufenster, das Fenster, die Verglasung der Tür und das Firmenschild fertig. Ins Fenster konnte daher noch immer keine Ware gelegt werden. Es wäre gut gewesen, dort eine Blumenvase, Gipsfiguren von Bäckern und Hausfrauen und einiges glänzende Flitterwerk, Preislisten und Schalen mit Bäckereien und Süßigkeiten auszustellen.  Die Gesellen wollten eigentlich gar nicht im Laden arbeiten; sie sagten, dass sie Bäcker und nicht Verkäufer sind. Die Preise waren hoch, die Behörden begannen, sich um ihre Senkung zu kümmern und drohten mit Geldbußen. Es war notwendig, der Konkurrenz zuvorzukommen, Leute anzulocken, den Umsatz zu erhöhen; das brachte aber mehr Arbeit mit sich. So kam man gemeinsam auf die Idee, eine Verkäuferin aufzunehmen. Schon wollten sie eine Ankündigung aushängen, als sich von selbst eine meldete, und weil niemand den Anfang verderben wollte, wurde sie aufgenommen. Sie war blass und ein wenig befangen, aber immerhin hatten auch Konditoreien solche unscheinbaren, mageren und lispelnden Mädchen, und es ging gut. ­­­ Sobald sie sich zurechtfindet, werden die jungen Leute hierher um Semmeln und Süßgebäck kommen.

Das waren also die Anfänge des jungen Mädchens. Die Straße war zwar belebt - denn sie war auch die Landstraße, auf der aus den Dörfern Leute auf die Märkte gingen und auch fuhren - sie war aber auch abgelegen, schlecht gepflastert und schlammig, und in der trostlosen Umgebung des kleinen Ladens verloren sich einige Villen mit prächtigen Gärten zwischen niedrigen und schmutzigen Häuschen und Vorstadtkneipen. Der Gehsteig war nicht besonders, nur zwei mächtige Akazien wuchsen in der Nähe des Ladens auf dem Gehsteig neben den eisernen Gartenzäunen der Villen. Die vorgeschriebene Senkung der Preise hatte unterschiedliche Folgen. In den ersten Wochen stiegen die Umsätze und das ganze Personal war am Ende des Tages wirklich müde. Die Arbeiter kamen mit vollen Mehlsäcken auf dem Rücken und wanden sich durch die Tür in den Laden. Der Verwalter stand im Laden, vor dem Laden, im Lager und auch im Hof. Oft kam auch seine Frau. Manchmal kamen auch Gesellschafter und viele Bekannte und Neugierige, die nur unnötig herumstanden und den Betrieb behinderten. Sie zu vertreiben war nicht möglich, obwohl sie nichts kauften, denn sie hätten sich gerächt, schlecht über den Laden geredet und das Geschäft geschädigt. Frauen ließen sich hier Brot und auch Kuchen backen, obwohl der Laden daraus keinen Nutzen hatte, weil der Besitzer der Backstube keinen Rabatt gewährte. Mehrere Male kamen verschiedene Kommissionen, amtliche und auch private. Der Bau einer eigenen Bäckerei war nicht möglich. Einerseits bewilligten sie die Behörden an diesem Platz nicht, andere Plätze gab es nicht und genug Geld gab es auch nicht. Der Umsatz war groß, aber der Gewinn gering, obwohl man sich mehr erhofft hatte. Aber die Genossenschafter hatten sich viel erwartet und hatten vergessen zu rechnen. Sie sahen schon ihre eigenen Villen und Gärten auf den unbebauten Grundstücken der Stadt emporwachsen. Sie sahen Kursgewinne und steigende Dividenden. Aber bei der ersten Jahresabrechnung begannen sie zu begreifen, dass das nur eine mittelmäßige Veranlagung und Absicherung ihrer Einlage ist. Der Inhaber der Bäckerei hatte sie fest in der Hand. Weil sie selbst arm waren, wollten sie auch den Betrieb sparsam führen. Aber die Arbeiter, von denen einige auch Anteilinhaber waren, forderten angemessene Löhne und auch Gewinnanteile. Es kam zu Auseinandersetzungen und die Arbeiter drohten mit Streik. Außerdem senkten jene Bäcker, die sich lang dem Zwang zur Preissenkung widersetzt und in dieser Zeit mehr verdient hatten, plötzlich die Preise, versuchten es jedoch mehrere Tage hindurch mit einer Verbesserung der Ware und einer umfassenden und aggressiven Werbekampagne. Dieser Attacke standzuhalten war für die Genossenschaft sehr schwer, besonders als sich der Inhaber der Backstube als durchtriebener Gegner erwies. Die Stimmung war gedrückt und manchmal war im Laden stundenlang kein Käufer.

Solcher Art war der Einstieg in das erträumte Leben. Die Arbeitgeber und auch die Verkäuferin waren bald gleichermaßen enttäuscht, ließen sich das aber nicht in gleichem Maß ansehen. Unterdessen spiegelte die Sonne am Himmel, zugleich als Beteiligte und Zeugin, die Stimmung auf diesem Fleck der Erde, einmal unberechenbar gutgläubig und fröhlich und ein andermal drohend und stumm. Wer aber den Laden zum ersten Mal betrat, den Duft von frischgebackenem Brot, von Vanille und Mehl roch, der die Katze, die sich zwischen Säcke und Körbe zurückgezogen hat, und das Mädchen wahrnahm, das Seite an Seite mit abgemagerten und mehlverstaubten Bäckergesellen arbeitete – der konnte wohl noch von goldenen Tagen dieses Bäckerladens träumen.

Die Verkäuferin arbeitete in den ersten Tagen bis zum Umfallen, hatte aber genug überschüssige Kräfte. Sie sperrte erst um acht Uhr Abends zu und  hatte eigentlich nicht einmal zum Mittagessen eine Pause, denn jeder Passant war willkommen, auch wenn er nur eine einzige Semmel kaufte. Die Kleider der Verkäuferin waren bald von den Gerüchen des Ladens, des Brotes und der Semmeln, der Sackleinen, der Katze und des Mehls durchdrungen, Zucker rieselte in ihre Ärmel, denn es war noch frühlingshaft frisch und sie trug eine Strickjacke mit langen Ärmeln, und wenn sie sich ins Bett legte, schien es ihr im Halbschlaf, als läge sie unter einem Brotkorb oder auf einem Mehlsack. Sie vergaß, dass sie in einem Federbett liegt, und träumte von einer grauen Mäusekatze mit gelben Augen. In der Früh hatte sie nicht einmal Zeit, daran zu denken, sich mit Wasser zu waschen und die Halbschuhe mit Schuhpaste zu polieren, und erst im Laden erinnerte sie sich wieder, was los ist. So ging es in den ersten Wochen, als im Laden noch ein lebhafter Betrieb herrschte. An ihre Wohnung und Ernährung dachte sie nicht; sie aß etwas, ohne darauf zu achten, was sie aß. Mit einem Bleistiftstummel zwischen den Fingern pflegte sie auf Packpapier Kronen und Heller zusammenzuzählen. Sie freute sich, dass sie schreiben und rechnen konnte, aber es schien ihr, dass sie steife Finger hat, dass der Bleistift kurz, stumpf und abgegriffen ist; sie hatte nichts, um sich zu setzen, darum musste sie sich oft vorbeugen, den ganzen Unterarm auf die Theke und ihre Brüste auf den Unterarm stützen, und so rechnete sie. Sie fürchtete, dass ihr ein Haar auf die Theke oder in einen Brotkorb fallen könnte, ihre Hände waren gewöhnt, die leichten und sich sträubenden Haarlocken glattzustreichen, und wenn sie eine unwillkürliche Bewegung machten, erschrak sie, als ob ihr eine Krone weggerollt wäre. Solang es viel Arbeit gab, wandten ihr die Burschen keine Aufmerksamkeit zu, weil sie keine Zeit hatten und wussten, dass es für eine junge Verkäuferin das Wichtigste ist, sich den Käufern zuzuwenden. Die meisten waren verheiratet und die Jüngeren wollten nicht riskieren, dass sich ein Mädchen verächtlich von ihnen abwandte.  Die Teilhaber dachten sich, dass es nützlicher wäre, erst nach den Arbeitsstunden an sie zu denken, aber da eilte sie schon nach Hause.

In der ersten Zeit hatte sie so viel Arbeit, dass sie nicht einmal im Schlaf Zeit zu träumen hatte, doch dafür lebte sie innerlich und nach außen in Ruhe und Harmonie.

Es hat den Anschein, dass die völlige Einsamkeit für den menschlichen Geist ein Trost sein kann, ähnlich dem Glück. Wenn sich ein junges Mädchen in den Dienst, in die Arbeit, in den Handel begibt, findet es sich sehr oft in einer Einöde statt in einem Garten. Aber auch die Einöde ist schön, wenn sie von der Jugend bewohnt wird, ja vielleicht sogar schöner in ihrer harten Gleichgültigkeit und berührenden Wehmut als ein von der Jugend bewohnter Königsgarten. Das Kind, das der Hoffnung nur im Traum begegnete, ohne bestimmte Umrisse, kann sich in der Wanne, in der Tragtasche, auf dem Wickeltisch und auch an trübsinnigeren Orten seine Lebensfreude holen, die Lust zu tanzen und zu singen und die anmutige Neugier der Jugend. Aber schlimmer ist es, wenn dieses Leben zu einem eisernen Gitter wird, das vom übrigen Leben abtrennt. Dann wünscht sich das Herz, dass das Gefängnis ein vollständiges Gefängnis wäre, die Einsamkeit eine vollständige Einsamkeit, damit es keine Erinnerung mehr gäbe. Aber das Leben ist anders. Nach mehreren Tagen ständigen eintönigen Dauerbetriebs, der nicht einmal durch die Nächte richtig unterbrochen zu sein schien, weil sie in den Nächten vor Müdigkeit sofort in einen traumlosen Schlaf verfiel, kam meist eine fürchterliche Leere, die keine Erholung bot. So ging es jede Woche bis am Sonntag um ein Uhr nachmittags, wenn der Laden am helllichten Tag geschlossen wurde, nachdem endlich auch die letzten Leute, vom Mittagessen kommend, Brot, Semmeln oder etwas Süßes für das Abendessen eingekauft hatten. Dann wurde sie wie selbstverständlich aus dem Laden gejagt und der alte, bärtige Arbeiter zog mit der Stange das Blechrollo herunter, rasselte mit dem Schlüsselbund, verstaute die Stange irgendwo im Hof, und die hinausgejagte Prinzessin des Ladens in der grauen Strickjacke und in den schäbigen schwarzen Halbschuhen mit abgetretenen Absätzen und dünnen Sohlen, blieb auf dem Gehsteig zurück, fast ohne Rat und Hilfe.

Ein blecherner Rollladen ist eine seltsame Sache. Buben und Betrunkene klappern und kratzen mit Schlüsseln und eisernen Stockspitzen auf ihm herum. In seine waagrechten und parallel laufenden Rillen schlägt der Regen. Er rumpelt beim Einrollen und Ausrollen wie ein Sarg auf dem Leichenwagen. Die Rillen des Rollladens sind wie Gefängniskalender ohne Monate und ohne Feiertage, belastet mit Staub, Rost, Geld, Hunger, Schuld, Arbeit, Müdigkeit, Angst. Der Rollladen öffnet sich wie die Barmherzigkeit der Sklavenhalter. Aus der Dunkelheit des Geschäftslokals ist durch einen Spalt des geschlossenen Rollladens ein umgekehrtes Bild der Straße zu sehen; die Menschen und Hunde gehen mit den Füßen nach oben, sind ganz klein, und auch die Bäume wachsen mit den Kronen nach unten, und Kindermädchen samt Kinderwagen gehen kopfüber, so dass man befürchtet, dass ihnen das Kleine aus dem Kinderwagen falle und getötet werde. Alles ist so läppisch und komisch, doch herrscht in der Dunkelheit des geschlossenen Lokals eine mächtige und schwüle Wirklichkeit, gleichsam ein wachsamer Geist, der anscheinend gern allein ist, die Katze und einige Spinnen und Käfer ausgenommen. In der Früh wird der Rollladen hochgezogen, aus der Tür wird gekehrt, die Finsternis wird mit Weihwasser besprengt und vertrieben und mit ihr auch gleich der muffige Geruch der Leute, Waren, Katzen und Gespenster, das Personal kommt herein, und dann beginnt das Geschäft wie ein Theater mit Schauspielern, Kulissenschiebern, Orchester, Zuschauern, Unternehmern und ferngebliebenen Rezensenten.

Wenn dieser Rollladen fiel, musste sie nach Hause. Sie hatte nicht weit zu gehen, nur schräg über die Straße in ein armseliges Häuschen, wo sie bei einer Taglöhnerfamilie wohnte, weil sie ihre gegenwärtige Anstellung, ihren geringen Lohn und auch ihre Wohnung nur als Übergangslösung betrachtete. Sie wollte Verkäuferin bleiben und erwartete nicht, dass sie wählen könnte. Sie erwartete, dass sich das Geschäft besser und stabiler entwickeln werde, oder dass sich eine bessere Stelle finde, wenn sie ein Zeugnis haben wird, das bestätigt, dass sie schon als Verkäuferin gearbeitet hat.

Aber der Sonntagnachmittag ist eine lange Zeit, und da nimmt der Mensch vieles wahr, das er eigentlich nicht beachten wollte, vor allem aber seine Wohnung und Nachbarschaft, wenn sich diese Dinge selbst allzu sehr aufdrängen. Da war ihr ein wenig bange und sie musste träumen, damit sie sich dagegen wehren konnte wie gegen eine Krankheit. Aber das Träumen, das sich bisweilen meldet, ist wie ein Schüttelfrost, der nur durch Beschäftigung mit etwas anderem geheilt wird. Sobald das einmal begann, kam es immer öfter und heftiger wieder. Zuweilen beschäftigte sie sich damit, dass sie die Strümpfe und durchgewetzten Ärmel stopfte, manchmal stickte sie etwas. Sie strickte sich eine weiße Netzschürze mit dünnen und langen Quasten, damit sie weiß war und doch auf ihr kein Schmutz zu sehen war. Am Abend ging sie zum Tor. Die jungen Burschen sahen sich mit Wohlgefallen nach ihr um, weil sie sich auch im armseligen Kleid von diesem elenden, schmutzigen Häuschen allzusehr abhob. Sie lächelte und dankte freundlich für den Gruß, aber nicht wie ein Mädchen den Jungen, sondern wie eine Verkäuferin den Kunden. Die Hausbesitzer dachten, ihr Aufmerksamkeit erweisen zu müssen und luden sie ein, mit ihnen auf einer Bank in der Veranda zu sitzen. Die alten abgerackerten Arbeiter kühlten sich die bloßen Füße, lüfteten die zerzausten Köpfe und rauchten schlechten Tabak aus schlechten Pfeifen, wobei sie wehmütig von allergewöhnlichsten Sorgen und Streitigkeiten sprachen. Frauen mit Kopftüchern, die sie tief in das Gesicht gezogen haben, schwiegen verbittert und rissen sich grübelnd los von Erinnerungen an Hühner, an Schweine, an Krankheiten. Kinder liefen durch den Schlamm und unreife Mädchen träumten mit offenem Mund von unerlaubten Dingen. Manchmal bot man ihr zum Abendessen einen Topf Milch und ein Stück Brot an, und alte Mütter nahmen sie zu einem kleinen Spaziergang auf dem schlechten Gehsteig mit, damit sie ihnen etwas erzählte; aber sie ließen sie nicht mehr als einen Satz sprechen, weil sie selbst so viel auf dem Herzen hatten. So ging sie schweigend und nicht ungern mit ihnen, weil sie sich da vor Belästigungen sicherer fühlte, und wenn manche Männer ihre Augen im Dunkeln aufrissen und sie anstarrten, konnte sie den Blicken ohne Angst und mit einem Lächeln begegnen, sich umsehen und sogar ein wenig flirten und dann wieder ihres Weges gehen und von etwas Vergangenem und etwas Künftigem träumen. Manchmal schüttelte ihr irgendeine alte Frau die Hand, weil auch fremde alte Frauen ihre Freude an dem rundlichen Mädchengesicht haben und sie wehmütig scherzend zur Schönheit und Jugend beglückwünschen. Manchmal gingen mit ihnen auch dünne, blasse Mädchen in dunklen Kleidern und mit irgendwie erstorbenen Augen, und obwohl ihr Kleid nur ein wenig heller war, wirkte sie zwischen ihnen wie ein blühender Apfelbaum unter verstaubten und verwelkten Heckenkirschen, auch wenn diese aus der dunklen Umgebung, vom Gaslicht beschienen, weithin leuchten. In dem armseligen, schmutzigen Häuschen hatten die ausgeschundenen und lebensmüden alten Leute sie gern wie eine Prinzessin nicht nur aus dem Laden, sondern auch aus dem Märchen.

Weil sie am Sonntag weniger müde war und gegen ihren Willen Zeit hatte, sich ihr Stübchen anzusehen, sah sie es im Tageslicht, manchmal auch am Abend beim Kerzenlicht, manchmal allein und manchmal auch, wenn eine alte Frau oder Kinder zu ihr kamen und von etwas redeten, dem sie nicht zuhörte. Und obwohl in der ersten Zeit der Blick in diese Stube jeden ihrer Gedanken an Freude und an die Vorstellung von einem Nest künftigen Glücks vertrieb, weil da eher eine armselige Speisekammer war mit einem dazugestellten alten und billigen Bett und mit einem schiefen, niedrigen Fensterchen ohne Gardinen, wo die einzige Dekoration aus einem abgeschlagenen Blumentopf ohne Blumen und einem mit Kalk bespritzten Bild bestand, schlich sich doch hier später wie zum Gespött von all dem das Licht der Träume ein. Unter dem Fenster war zwar ein Müllhaufen, aber ein Stück weiter, jenseits des Baches, standen Erlen, über denen ein Stück Himmel zu sehen war, der immer schön war, auch im Nebel und im Regen. Auf eine wuchtige Ofenbank, unter der sie nach einem Regen die nassen Schuhe trocknete, sprang manchmal der Kater, wenn er auf Besuch kam und sich, obzwar er zuerst unfreundlich und grob war, mit der Zeit ihr Herz eroberte. Zuerst setzte sie sich zu ihm aus Mitgefühl, später aus Zuneigung. Der Kater kuschelte sich an sie, guckte in den Himmel, wo manchmal die Spatzen flogen, ja sogar eine Maus kam einmal auf Besuch, aber nicht zur rechten Zeit, sie erschreckte den Kater fürchterlich, bis sie auf die Schnauze fiel und schnell zurückrannte. Und da erinnerte sie sich an die Märchen der Kinder. Gerade die Hinfälligkeit und Armut des Stübchens und der Nachbarschaft gab ihrem Herzen die volle Freiheit der Märchen; wenn sie von Märchen träumte, schien es, dass sogar ihr ärmliches dunkles Zimmerchen in der Abenddämmerung ihrem Herzen lauschte und ihren Blicken folgte, dass die Zimmerdecke und der Fußboden ihr dafür dankbar waren, dass sie dort saß wie ein Licht für ihre Armut und wie eine Blume für ihr Alter, dass Mäuschen, Fliegen, Falter und Motten kamen, um sie anzusehen wie eine entführte Prinzessin; nur die Hennen durften nicht hereinkommen, denn die waren dumm. Aber es dauerte ziemlich lang, bis sie sich auf diese Weise verstanden. Zuerst vertrauten sie einander nicht, und sie fühlte aus diesem Zimmer einen Spott wehen, dass sie hier hängen geblieben, dass sie hier im Elend gefangen war und dass sie von hier nicht mehr wird weglaufen können, auch dann nicht, wenn sie sich aufraffen und dorthin zurückkehren wollte, woher sie kam.

Aber die Wochen vergingen, die Sonne stand länger über den Straßen und ging hinter den rosenfarbenen Feldern und goldenen Bergen des Frühlings unter. Auch die Narzisse erschien schon in einer Vase in der Auslage des Bäckerladens, und an schwülen Nachmittagen warfen die Bäume einen tiefen Schatten auf den Gehsteig. Je schöner der Frühling erblühte, desto freier konnte man im Laden atmen, in dem jedoch das Geschäft zurückging. Im Garten der benachbarten Villa glühten bereits goldene und rosenrote Knospen auf edlen Sträuchern, und Wogen herrlichen Duftes überraschten müde Passanten, im Laden lag ein schwermütiger Schatten, in der Auslage schimmerte matt eine Porzellanfigur und eine Vase mit Blumen zwischen Schüsseln mit Gebäck; das Glas ließ aus der Tiefe des Ladens nicht allzu viel durch und warf eher ein unbestimmtes Dämmerlicht in die Tür, deren Klinke immer auf Hochglanz poliert war.

In den Nachmittagsstunden war es im Laden oft für lange Zeit still und ruhig. Da konnte sie sich auf einen Hocker setzen, der hier ursprünglich gewiss nicht zum Ausruhen aufgestellt wurde, das es hier nicht geben sollte, sondern zum Draufsteigen; weil sie noch jung war, legte sie die Hände nicht in den Schoß, sondern nähte oder strickte etwas, aber verstohlen, damit man nicht sah, dass wenig verkauft wird.

Das Fenster war durch eine Markise gegen die Sonne geschützt; sie konnte sich daher in eine Ecke beim Fenster kauern und von Zeit zu Zeit auf die Straße hinaussehen, denn auch die Leute, die vorbeigehen und vorübereilen, sind zumeist interessant. Manchmal erinnerte sie sich an ihre Kindheit, an die Schule, an ihre Pläne und Ängste, und auch daran, dass dieser Arbeitsplatz, obwohl er viel bescheidener ist, als sie erwartet hatte, auch bei weitem nicht so sicher ist, als sie erwartet hatte, und dass es möglich ist, dass sie von hier früher weggehen wird, als sie gerechnet hatte, nicht freiwillig wegen einer besseren Stelle, sondern gezwungenermaßen, nach einer Kündigung wegen des unzureichenden Geschäftsgewinns.

Sie erfuhr das mit Gewissheit an einem Sonntag, als sie die Einladung junger Arbeiter annahm und ins Arbeiterhaus zu einer Tanzparty ging. Sie machten ihr entsprechende Andeutungen, hatten aber vielleicht nicht die Absicht, ihr wehzutun. Sie war zwar traurig, machte aber ein gleichgültiges Gesicht. Sie erwartete nun die Kündigung und kümmerte sich daher um nichts. Sie trat in die offene Ladentür, ging oft auch auf den Gehsteig unter die Akazien und sah sich, zuweilen zaghaft und aus den Augenwinkeln, nach den Menschen um, deren wohlgefällige Blicke sie meist schon von weitem auf sich gerichtet fühlte.

Es war schon warm, sie trug nicht mehr die graue Strickjacke, sondern ein hellgelbes Jungmädchenkleid mit einer Netzschürze und mit Hausschuhen ohne Absatz, die wie von selbst liefen und ihre Füße in schwarzen Strümpfen fast ganz sehen ließen. Sie musste im Laden keine Stoffpantoffel mit Knöpfen mehr tragen, die glänzten wie Mausäuglein, aber abrissen und wegrollten, worauf an ihrer Stelle nur verdrehte Zwirnreste hervorguckten und die Knopflöcher an ihren Füßen blinzelten wie ein schläfriges Kätzchen. Die Pantoffel wischten wie weiche Bürsten über den Boden und die absatzlosen Hausschuhe liefen wie Katzenpfoten, so dass ihre Schritte nicht zu hören waren. Wenn das Mädchen in der Ladentür oder unter den Akazien stand, wirkte die kleine und zarte, aber wohlgestaltete und schlanke Gestalt in ihrem Liebreiz, als wäre sie aus schwerem Gold und stünde doch fast schwerelos auf dem Boden. Unter den schön geschwungenen Brauen strahlten die Augen, die ruhige und bedachtsame Bewegungen gewöhnt waren, Freude, Staunen und einfühlsame Aufmerksamkeit aus. Durch ihren Aufenthalt im Bäckerladen ist ihre Anmut noch reizvoller geworden, wie eine köstliche Gottesgabe, gereift im Feuer der Sonne und verfeinert in der Glut des Backofens. Eine etwas verträumte Schwermut, gut verborgen unter der mädchenhaften Anmut, bewirkte, dass viele sich nach ihr umdrehten, aber kaum mehr wagten, als ihr zuzulächeln oder sie zu grüßen. Wenn jemand sie ansprach, während sie unter der Akazie oder in der Tür stand und mit den Fransen ihrer Schürze spielte, erfreute sich jeder ein wenig an ihrem Lächeln, an dem golden schimmernden Weiß ihrer Hände und an dem lebhaften Aufflammen ihres schönen Gesichts, das aber nicht scheu, schüchtern oder verlegen wirkte, denn ihre Augen blickten eher kühn und feurig und ihr mädchenhaft erblühtes Gesicht überspielte durch aufrichtige Herzlichkeit den Anflug irgendeiner unbekannten Sehnsucht. Das gefiel ihr, aber obwohl sie nett und freundlich war, erlaubte sich niemand vor ihr mehr als eine einfache, oft auch zaghafte und befangene Höflichkeit. Es war offensichtlich, dass sie mit niemandem ausging und dass niemand ihretwegen in den Bäckerladen um Süßgebäck kam, denn die Anmut der jungen Verkäuferin weckte eine wehmütige Sehnsucht, die man lieber nicht aufkommen lässt.

An dem Tag, an dem sie die Kündigung erhielt, blühte schon der schwarze Holunder und es war heiß. Die Stunden vergingen in bedrückender Ungewissheit. Nachmittags, als sie es satt hatte zu stricken, stützte sie sich auf das Fensterbrett und sah nach etwas Unbestimmtem aus. Sie wollte an nichts denken. Sie bedeckte ihr Gesicht, aber plötzlich spürte sie am Scheitel eine Hand.

„Wer ist es?“ ließ er sie raten.

Sie erriet zwar, dass es der junge Arbeiter aus der Nachbarschaft war, aber sie selbst rührte sich nicht und antwortete nicht. Aus der Ferne kam noch ein Junge. Sie wandte das Gesicht um, erhob sich aber nicht. Jetzt waren zwei bei ihr und wussten nichts zu reden. Sie wussten nur, dass es heiß ist, und dass hier nach einer Weile der Eisverkäufer vorbeifahren wird. Sie wollten sich Eiswaffel kaufen. Sie rührte sich nicht und blickte in die Straße.

„Lange schon hättet Ihr kommen sollen,  um etwas zu kaufen, damit ich hier bleiben könnte, aber Ihr seid nicht gekommen, und jetzt, wo ich da raus muss, werdet Ihr hier Eiswaffel kaufen,“ warf sie ihnen still aber gleichgültig vor.

Sie waren betroffen. Da kamen zwei junge Fremde, und im Vorbeigehen sahen sie das Mädchen an. Sie blickten in den Laden hinein, aber die Anwesenheit der Burschen schien sie zu stören. Sie gingen weiter. Die Verkäuferin lächelte.

„Seht Ihr, wenn Ihr nicht wärt, hätte ich etwas verkaufen können!“

Wieder näherte sich jemand, wahrscheinlich wieder irgendein Fremder. Er trug eine voluminöse Aktentasche unter dem Arm, aber er trug noch etwas, das eigentlich nicht zur Aktentasche passte. Es war ein Strauß Rosen, vielleicht von den ersten in diesem Jahr. In der Hitze war schon die Süße ihres ersten Duftes zu riechen. Auch er stutzte, und das ziemlich jäh, denn er erblickte sie gerade, als er fast schon zum Fenster des Ladens gekommen war und keine Zeit hatte, sich auf ihren Anblick so vorzubereiten, wie er es jetzt gebraucht hätte, als er wie geblendet da stand. Allerdings hat er sie nicht so angestarrt wie jene, die vor ihm gekommen waren, doch seine Augen richteten sich wie versengt und geblendet auf sie. Auch die Burschen blickten mit eifersüchtiger Sorge zu ihr hin, weil der Herr mit den Rosen das Mädchen offensichtlich mehr fesselt als sie, die sich gerade überlegen, ob sie zum Eis auch für sich selbst Eiswaffel kaufen können oder nur für das Mädchen. Sie sahen, wie gebannt das Mädchen auf die Rosenknospen schaute.

Aber da sprang sie wie ein Pfeil auf und bedeckte mit beiden Händen den kleinen Ausschnitt ihrer Bluse. Sie erkannte, dass ihre Brüste hinter dem runden Ausschnitt des Hemdes zu sehen waren, wenn sie sich bückte. Sie wurde flammend rot. Der goldene Schatten des lilienweißen Zaubers verschwand unter ihren Händen und das Feuer, für das in den Wangen nicht genug Blut war, flog in die Augen. Sie glühten dunkel und prachtvoller als der ganze übrige Körper, der in diesem Augenblick von süßer Wehrlosigkeit durchdrungen war.

Nur der Fremde, der sich noch kurz umsah und dabei an einen Laternenmast stieß, ahnte undeutlich die seltsame Schönheit dieses Augenblicks. Diese stolze und zugleich freudige Scham war ein Aufschrei der Liebe, die im Verborgenen ein seit langem versprochenes Glück erwartete. Er stutzte, aber als er die Gegenwart der zwei Burschen sah, schaute er nur unschlüssig auf das Firmenschild des Ladens und ging. Er hörte, wie einer der Burschen mit spöttischem Unterton sagte:

„Ich habe gedacht, dass er Ihnen doch wenigstens eine Rose gibt!“

Er blieb stehen und kehrte zurück. Das Mädchen hatte sich wieder halb ins Fenster gebeugt, rührte sich aber nicht, sie drückte nur mit beiden Händen den Rand der Bluse an den Hals, wie wenn sich eine Knospe von neuem im Kelch verbergen wollte. Es war nicht zu erkennen, ob sie nicht aus den Augenwinkeln beobachtete.

Die Burschen hörten zwar ihr und sein Herz nicht schlagen, hatten aber zumindest die Show, obwohl das Mädchen den Anschein erweckte, als hätte es niemanden gesehen.

„Verzeihen Sie, dass ich es nicht wagte,“ entschuldigte er sich und hielt ihr den Strauß hin, „bitte, wählen Sie!“

Und als ob er sich ärgerte über seine frühere Verlegenheit, fügte er mit einem Lächeln hinzu: „Das ist fast wie im Theater!“

Das Mädchen richtete sich auf, wie aus einem Traum. Sie achtete nicht auf die letzte Bemerkung. Sie schaute, schaute, nicht auf ihn, sondern auf den Strauß Rosen in seiner Hand. Sie ließ eine Hand vom Blusensaum fallen. Die eine Hälfte des Halses schimmerte entblößt. Sie schaute noch immer wie verzaubert, atemlos und sprachlos, auf den Strauß lieblicher Knospen, die gerade im Begriff waren, sich voll zu öffnen. Vielleicht war es dem Spender schon ein wenig befremdlich, dass sie den Rosenstrauß mit so innigem Erstaunen bewunderte, aber ihn nicht eines Blickes würdigte. Doch da streckte sie beide Hände aus und nahm den ganzen Strauß mit sichtlich freudiger Erregung entgegen.

„Also doch Rosen!“ sagte sie leise, mit gesenkten Augen.

„Nehmen Sie sie für Ihr Glück!“ sagte er, bewegt von plötzlicher Sehnsucht und nicht begreifend, welche Aufgabe ihm das Schicksal in dieser lieblichen und geheimnisvollen Begegnung stellte.

Erst jetzt sah sie ihn an, umfasste den Strauß wie ein geliebtes Kind, erinnerte sich, was sie kurz vorher vor ihm verdeckt hatte, und lächelte viel glückseliger als alle Knospen, die sie an sich drückte. Ihre Augen glänzten blau und die Lippen wollten etwas sagen, warteten aber vielleicht noch auf irgendeinen Wink.

„Sie stehen Ihnen gut,“ sagte er, nach wie vor ein wenig zaghaft.

„Für wen waren sie?“ rief sie plötzlich mit freudiger Hoffnung in der Stimme.

„Für die letzte Liebe! Ich bin froh, dass ich sie Ihnen geben kann!“

„Warum?“ fragte sie verwundert und verblüfft.  

„Alles hat sein Ende,“ sagte er, „ich muss wieder gehen. Je schöner ein Traum, desto vergeblicher ist er.“

Er wandte die Augen ab, um der übermäßigen Schönheit ihres Blickes wie einem Schmerz auszuweichen, und wäre gern weggegangen. Es gab aber noch etwas, worüber er erschrak.

„Und da sind Sie nur deshalb zurückgekehrt, um mir das zu sagen?“

Dieser Schlag traf ins Schwarze. Ihm wurde schwindlig. Vielleicht sollte er springen, sie vom Fenster wegreißen und mit ihr weglaufen. Aber er konnte keinen Gedanken fassen und hatte keine Vorstellung, wo er ist. Weglaufen, mit ihr oder ohne sie, ohne sie oder mit ihr, aber weglaufen! Doch der Körper war wie gelähmt.

„Verzeihen Sie,“ sagte sie mit einem Ernst, der es unmöglich machte, in diesem Augenblick irgendeinen Einwand zu machen, „aber das war ein Irrtum! Mit mir ist es noch nicht zu Ende, höchstens für Sie!“

Die Stimme, die sich zu einem stolzen und schmerzlich erregten Alt senkte, deutete zur Genüge an, was sich auch in einem langen Gespräch nicht sagen ließe, und die Augen brannten ihr wie eine Kerze im Dunkel hinter einem Vorhang. Die Rosen wechselten aus den lebenden Armen in abgestorbene oder gelähmte Arme. Beide Zeugen wandten sich ab. Es war nicht mehr möglich, auch nur ein Wort zu sagen. Der Eisverkäufer klingelte aus der Ferne. Dem Mädchen, das mit dem Stolz einer einsamen roten Blume hinter dem Fenster stand, begannen die Knie zu zittern und es wurde ihm schwarz vor den Augen. Die Rosen waren verschwunden, die Schritte verhallt. Ein Spatz flog auf den Gehsteig herunter. Ein Auto fuhr vorüber und wirbelte Staub auf. Nach ihm ein zweites. Die Gesellen waren froh, dass sie weggehen konnten, als der Eisverkäufer nahte. Es war traurig.

Sie kehrte in den Laden zurück, setzte sich auf den Hocker. Die Rosen waren nicht mehr da. Eine Wespe verirrte sich in den Laden und sang ein seltsames Lied; sie setzte sich auf einen Teller und bettelte um Zucker. Ein Abreißkalender schimmerte matt im Halbdunkel, nur die Zahlen des Datums traten hart aus dem Schatten hervor.

Jetzt war sie eigentlich schon arbeitslos. Allein in der Welt. Sie hätte um einen zweistündigen Ausgang bitten müssen, um sich etwas zu suchen. Der Arbeiter im Lager ist eingenickt, jetzt hätte er ebenso gut hier an ihrer statt einnicken können. Aber sie sah auf dem Kalender, dass Freitag ist. Ein Unglückstag. Sie wollte sich nichts mehr anfangen.

Da kam ein Käufer in den Laden, lenkte sie ab und hielt sie auf. Ehe sie ihn fertig bedient hatte, kam ein zweiter und nach ihm noch einer. Schmutzige Kinder kamen um Bonbons, aus dem kleinen Café schickten sie um Semmeln, es kam auch eine redselige Haushälterin aus einer der Villen und noch viele Leute, so dass ihr nach einer Weile nur einige zerbrochene Stücke auf dem Boden des Korbes und ein paar Zuckerwaren in Schachteln übrig blieben. Sie hatte keine Zeit, sich darüber zu wundern. Sie bemerkte nicht einmal, dass ihre Knie nicht mehr zittern, dass ihr aber traurig zumute ist und sie nicht einmal darüber nachdenken kann. Von den Leuten bemerkte das auch niemand. Alte Bekannte, die später kamen, warteten geduldig auf den Bäcker, der eigens in die Backstube gehen musste, und murrten nicht einmal. Das war ein sonderbarer Tag. Zufällig kam der Verwalter.

„Heute bemühen Sie sich irgendwie,“ sagte er lobend.

„Ach nein, darum gehe ich ja schon. Ich bin ein Unglücksfall gewesen,“ anwortete sie bescheiden und ohne den geringsten Unterton der Bitterkeit in ihrer freundlichen Stimme.

„Na ja, vielleicht wird es nicht so schlimm sein,“ versuchte er zu beschönigen, wenn auch recht unbestimmt.

Es schien ihr aber, obwohl sie leise redete, dass sie das doch nicht hier vor den Käufern sagen sollte. Sie blickte flüchtig zu ihnen, ob sie etwas mitbekommen haben, aber allem Anschein nach war das nicht der Fall.

Sie sagte einige Worte zu den Wartenden, dass der Arbeiter bald mit einem Korb kommen werde, dass das Gebäck frisch sein werde, dass es draußen schön ist, und während sie sich auf die Theke stützte, wandte sie den Blick zum Fenster. Ein großer Schmetterling in schönen dunklen Farben und mit Vergissmeinnicht-Augen drehte sich am Fensterrahmen umher und wagte sich nicht in den Laden. Der Arbeiter kam lange nicht. Sie war in Verlegenheit, denn viele Leute schauten sie an, sie ließ den Ladentisch los, dann hielt sie sich wieder daran fest, klopfte mit dem Fuß nervös auf den Boden, bis ihr die Sandale vom Fuß glitt und auf den Boden fiel; sie tastete mit dem Fuß nach der Sandale, versprach, dass der Arbeiter gleich kommen werde, und schaute wieder zum Schmetterling. Der Schmetterling tanzte seinen verrückten Tanz am Fensterrahmen und flatterte in den Laden herein.

„Der ist aber hübsch!“ sagten mehrere Leute.

Er zitterte mit den Flügeln, seine Farben tanzten, er umkreiste den Luster, flatterte um die Lampe, dann streifte er die Haare des Mädchens, mehrere Male, als ob er es zum Spielen verlocken wollte. Die Männer waren erstaunt, das Mädchen rührte sich nicht, damit es den Leuten, die des Wartens müde waren, nicht den Spaß verdarb. Der Verwalter, der zuvor in das Lager gegangen war und jetzt wieder durch die Tür hereinkam, riss die Augen auf. Der Schmetterling setzte sich auf ihre Schulter, schloss die Flügel und schlief ein. Die Leute mucksten sich nicht. Dann öffnete er die Flügel wie eine herrliche Blüte, winkte mit ihnen und umflog ihren Ellbogen. Dann setzte er sich für ein Weilchen und das schien ihm gut zu tun. Dann setzte er sich auf ihre Hand, schloss die Flügel und wiegte sich sorglos.

„Ich fange ihn Euch!“ erbot sich ein Mann und beugte sich vor. Sie lächelte und wollte die Hand wegziehen, aber der Schmetterling erhob sich, streifte an ihre Wangen, und als die Frau des Verwalters hinter ihrem Alten in die Tür trat und sah, was los war, wollte sie ihm einen Rippenstoß geben, aber das Staunen aller bemächtigte sich ihrer dermaßen, dass auch sie die Augen aufriss.

Die Verkäuferin stand wie eine Prinzessin. Der Schmetterling verirrte sich auf ihren Nacken.

„Das ist aber ein Schwerenöter!“ erscholl eine Stimme und alle begannen zu lachen.

„Und warum denn nicht! Das ist kein Wunder,“ erscholl eine andere Stimme und es folgten noch einige Bemerkungen.

Das war eine harte Prüfung. Sie errötete. Ihr Gesicht, ihre Augen, ja sogar ihre Zähne gehorchten ihr nicht mehr. Sie wollte mit der Hand ihre Verwirrung aus dem Gesicht wischen und verdeckte versehentlich den Schmetterling. Da schossen ihr kleine, kaum sichtbare Tränen aus den Augen. Sie wandte sich zum Fenster, als wollte sie nach dem Bäcker Ausschau halten, und der Schmetterling entflog durch das Fenster wie ein Traum vom Glück. Da schob sich gerade der Arbeiter mit dem Tragkorb auf dem Rücken und einem Weidenkorb voll Gebäck in der Hand durch die Tür in den Laden. Es gab wieder Arbeit, aber alle, die gerade die Verkäuferin gesehen hatten, überkam beim Hinausgehen Traurigkeit. Dageblieben waren nur noch der Verwalter mit seiner Frau und irgendein Käufer, nach dem sie sich aber nicht mehr umsah, denn sie musste schon zur Ladentür laufen und sich, während sie sich auf die Straße hinausbeugte, am Türpfosten festhalten, damit sie nicht hinfiel. Aber sie sah niemanden, nur die Leute, die aus dem Laden kamen. Es schnürte ihr das Herz und die Kehle zusammen. Sie kehrte in den Laden zurück. Irgendein Käufer stand noch mit dem Chef da. Aber sie sah vor Tränen nichts. Der Chef sagte ihm gerade etwas über sie. Sie konnte jetzt nichts über sich hören, die zurückgehaltene Traurigkeit erdrückte sie. Sie schlüpfte so unauffällig aus dem Laden, dass es vielleicht nicht einmal jemand bemerkte.

Im Lagerraum herrschte ein Halbdunkel und nur die Augen des Mäusekaters leuchteten. Sie ließ sich mit dem Gesicht auf die Säcke fallen, damit sie sich im Halbdunkel und Verborgenen ausweinen konnte. Vielleicht sah sie aus dem Hof ein Arbeiter, aber er begriff nichts davon. Auch der Mäusekater sah sie, begriff zwar auch nichts, doch rieb er sich an ihrem Knöchel und schnurrte besänftigend.

Sie wäre gern nach allen Richtungen ins Unbekannte weggelaufen, aber das war vielleicht zu spät. Der Trotz schwächte sich ab, als sie ins Träumen geriet. Und nach einer Weile merkte sie nicht einmal, dass sie lächelte vor Freude, die sie sich aber nicht eingestand.   

 


 

 

 

Kapitel IV

 

Der Lebensunterhalt ist keine einfache Sache, obwohl es leichter sein kann, den Körper zu ernähren als die Sehnsucht. Wenn man sich weder von der Armut noch von der Sehnsucht befreien kann und wenn diese schon allzu groß werden, kann es sein, dass man das Glück nur dann findet, wenn zu diesen beiden armen Monstren oder Schönheiten noch ein drittes hinzukommt, nämlich die Fürsorge. Fürsorge ist etwas anderes; die Armut sorgt sich zwar auch und altert, aber nur für sich selbst; die Fürsorge gilt jemand anderem.

Gegen die Anfechtungen des Körpers wurden zu verschiedenen Zeiten verschiedene Mittel empfohlen. Abhärtung und Aufenthalt in der Sonne, am Meer, spezielle kulinarische und therapeutische Rezepte und verschiedene geistige Ablenkungen. Andere empfahlen Peinigungen des Körpers, Enthaltsamkeit, Hunger, aufreibende Arbeit, Wachen und Beten. Aber diese Dinge versagen bei ernsthaften Versuchungen und das Gebet selbst ist eher Öl ins Feuer. Es gibt vielleicht keinen größeren Fehler, als das Gebet gegen eine Versuchung zu empfehlen, die tatsächlich schon eingetreten ist.

In solchen Fällen bleibt nur zu hoffen auf Almosen, denen es gelingt, den Himmel zu erreichen. Und manchmal scheint es, dass der Mensch sie wohl gäbe, aber daran zweifelt, dass der Himmel seinen Beitrag bemerkt. Aber der Himmel ist nicht nur über uns, sondern auch um uns herum. Jeder strebt nach dem Himmel, kann aber vielleicht nicht hineinkommen. Wenn das nicht so wäre, dann gäbe es weder die Schönheit eines Mädchens noch die Sehnsucht im menschlichen Herzen. Die menschliche Schönheit liegt darin, dass jeder Mensch ein Stück Himmel mit sich herumträgt, auch wenn er vielleicht im Herzen die Hölle hat.

Wenn die Not mit der Sehnsucht groß ist, dann braucht es auch große Almosen; nicht aus Taschen, sondern aus allem. Es ist notwendig zu wachen und zu beten, nicht für sich selbst, sondern für andere; nicht Angst zu haben um sich selbst, sondern um andere; Ruhe und Frieden, Glück und Vergebung nicht für sich selbst zu suchen, sondern für jemand anderen. Darum verbindet sich Sehnsucht am liebsten mit Not und Armut, weil ohne sie das Leben der Welt ohne Wert und ohne Schönheit wäre und Almosen nicht das wären, was sie sein sollen.

Der Lebensunterhalt ist keine leichte Sache. Wenn jemand für einen anderen Brot oder Wohnung sucht, hetzt er sich oft genug ab und wartet lange und findet Trost nur in dem Wissen, dass er nicht für sich selbst arbeitet. Verloren ist jeder Tag, an dem ein Mensch nichts für jemand anderen geleistet hat. Und Tage, an denen ein Mensch nur für sich selbst gearbeitet hat, sind doppelt verloren; besser wäre es gewesen, wenn er überhaupt nicht gearbeitet hätte.

Er war froh, dass er Vertreter geworden ist, obwohl er schon oft verschiedene Nachteile seines Standes spürte. Tage mit Einkommen wechselten sich mit langen Reihen von Tagen ab, die nicht nur kein Einkommen, sondern sogar Verluste mit sich brachten.

Hilfe kam unerwartet, manchmal nur das Nötigste, zu anderen Zeiten im Überfluss. Er musste viel reisen, wenn auch oft vergebens, nur damit er sich wenigstens in Erinnerung erhalten und allmählich unentbehrlich machen konnte. Er bemühte sich, denen zu helfen und beizustehen, denen er seine Dienstleistungen anbot, damit sie sich nicht ständig von eintönigen Verkaufsreden angewidert fühlen mussten, die den einen als Sünde, den anderen als Bettelei erschienen. Er freundete sich mit seinen Papieren, Preislisten, Adressbüchern und Geschäftsberichten an, um der Versuchung zu widerstehen, das alles einmal aus dem Fenster des Zuges in die Felder hinauszuwerfen.

Er erinnerte sich an seine Misserfolge, an viele Anträge, die zuerst angenommen und dann, als er sich bereits auf seine Provision freute, widerrufen oder abgelehnt wurden, an die Kündigung von Verträgen und Nichteinhaltung von Verpflichtungen, an Tage, an denen er überall hinausgeworfen wurde, und auch an Gerichtsverfahren. Das waren kleine, graue und trübe Dinge, die zwar Verdruss verursachten, aber nie wirkliche Bedrängnisse oder unvergessliche Aufregungen. Irgendwie ging ihn das nicht einmal etwas an, denn er war eher nur der amtliche oder geschäftliche Mittelsmann.

An seine Liebeserlebnisse erinnerte er sich nicht gern. Manchmal in einem Augenblick der Ruhe, im Zug, wenn er zu Fuß unterwegs oder auch allein war, kamen Erinnerungen wie lästige, zudringliche Verkäufer. Das waren so etwas wie zerschlagene, faule Geschäfte, um die schade war; sie waren aber doch schön und er hätte ihretwillen auch schlimmere Schwierigkeiten in Kauf genommen als jene, die er schon erlebt hatte. Die Trauer über Misserfolge und Fehlschläge konnte ihm nichts nehmen von ihrem besonderen Glanz.

Er zählte sie, wie ein Wucherer seine Schmuckstücke zählt. Keines verblasste. Er liebte sie alle und überlegte manchmal, welche am schönsten war, wenn auch vergeblich. Sie waren von unterschiedlichem Alter, obwohl die Unterschiede nur gering sein konnten. Aber wer weiß! Denn er begegnete ihnen zu recht verschiedenen Zeiten. Wenn er sich wenigstens alle drei nebeneinander vorstellen könnte! Aber er konnte nicht. Was war das für ein Geheimnis, das sie verschlang, wie die Blüte den Tau mitsamt seinen funkelnden Regenbogenfarben aufsaugt.

Sie waren arm, allesamt wie Kinder Gottes.

Manchmal fürchtete er, dass ihr Leben wie ein nutzloses Licht, wie ein vergebliches Feuer verlief, das entfacht wurde, nun aber kaum mehr als ein Glimmen ist. Aber warum das alles? Konnte er etwas dafür?

Wenn er sich mit diesen Gedanken quälte, erkannte er, dass er wirklich etwas dafür konnte. Beim ersten Mal konnte ihm das vergeben oder zumindest darüber gesprochen werden. Beim zweiten Mal, ach, wie schön das war! Aber vielleicht hat es ihm auch irgendwie gut getan, dass er – um wahre Treue zu beweisen – sich umstimmen ließ, sich zu seiner ersten Liebe zu bekennen, obzwar er das schon so oft bedauert hat. Allerdings war die Art, wie sie ihn nach allem fragte und wie sie ihn ermutigte, eigentlich das Schönste in jenem seltsamen Augenblick. Aber wie kann der dritte Fehlschlag entschuldigt werden? Warum hielt er sich nicht länger in dieser Stadt auf? Er hatte Angst, und indessen verlor er einen Geschäftsabschluss, an dem ihm am meisten gelegen sein musste. Immer hoffte er, dass ihm die Liebe nicht entschwinde, und unterdessen tauchte sie an einem einzigen Tag auf, und als er sie nicht festhielt, verschwand sie, um nie wieder zu erscheinen. Wenn das tatsächlich echte menschliche Wesen sind, so suche sie jetzt in der weiten Welt!

Vielleicht war das nur ein Zeichen der Vergeblichkeit. Dreimal begegnete ihm die Schönheit. Das dritte Mal war vielleicht das letzte Mal. Wer weiß, wie viel Anstrengung es ihn kosten wird, nicht zurückzudenken!

Vielleicht würde ihm das alles nicht so leidtun, wenn sie nicht arm wären, ärmer als er selbst. Hat er die Armen betrogen, oder wurde er von ihnen zurückgewiesen?

Er erinnerte sich auch, was er alles tat, um sie zu finden. Am meisten musste er nach dem weinenden Mädchen vom Friedhof suchen. Das war ein wenig eigenartig, denn gewiss hatte man ihm in der Nachbarschaft einen falschen Namen angegeben. Er erfuhr zwei Namen und es fiel ihm ein, ob er nicht vielleicht ihre Tante fragen sollte, die er jedoch nicht kannte. Im Meldeamt wurde er auch nicht fündig und dachte, dass die Anmeldung sich auf unbestimmte Zeit verzögert haben konnte. Mädchen sind oft nur mit ihrem Vornamen bekannt, den Zunamen benützen sie oft gar nicht und vergessen ihn leicht. Die Zweite durfte er nicht suchen, solange er die Erste nicht gefunden hat. Aber wenn sich beide nicht finden ließen, würde ihm die Dritte auch entwischen.

Er suchte ihr eine Arbeitsstelle und fand tatsächlich eine. Er machte sich auf den Weg, kam zum Bäckerladen, aber aus ihm blickte schon eine neue Verkäuferin, die über das Schicksal der vorherigen Verkäuferin nichts wusste. Vom Verwalter erfuhr er, dass sie wegging, weil sie irgendeinen Posten gefunden hatte. Wie auch immer, der Verwalter wusste es nicht oder wollte es nicht sagen, denn er war sehr unfreundlich, und als er ihn zumindest um ihren Namen fragte, antwortete er übelwollend und beleidigend. Bei den Ämtern erreichte er auch nichts. Er wusste weder ihren Namen noch die Adresse ihrer früheren Wohnung und auch nicht den Tag des Weggangs, bei der Krankenkasse war sie nicht gemeldet, andere Verzeichnisse waren entweder unvollständig oder verworren, Bekannte hatte er hier nicht, die Heiratsvermittlerin war zu begriffstützig, und obwohl er ihr Geld gab und versprach, sah er, dass er es vergeblich gegeben hat, die Burschen und Arbeiter aus der Umgebung wussten nicht viel und wollten nichts sagen, und er hatte keine Zeit mehr, gründlicher weiterzusuchen; er kam zur Gewissheit, dass die Verkäuferin die Stelle am Ende des Monats verlassen hatte.

Aber die von ihm vermittelte Stelle musste zeitgerecht besetzt werden, und wenn von ihr keine Nachricht hinterlassen wurde, war nicht nur die Stelle verloren, sondern er selbst büßte das Vertrauen anderer ein, weil sein Handeln nicht mehr ernsthaft erschien.

Die Erste musste er finden, weil er es versprochen hatte; andernfalls durfte er nicht zur Zweiten kommen. Die Zweite? Jahr und Tag vergingen, aber auch das Dornröschen im blauen Kleidchen war verschwunden und nur der Ring war in der Schachtel in seinem Tischchen übrig geblieben. Die Suche wurde dadurch erschwert, dass auch die Familie, bei der sie gedient hatte, weggezogen war. Er machte die Adresse der Arbeitgeber ausfindig und schrieb ihnen, aber er erhielt keine Antwort. Einmal machte er eine Reise zu jenem Nest, wohin sie nach der Pensionierung gezogen waren, aber als er dort hinkam, waren sie nicht zu Hause. Er schrieb wieder und der Brief kam zurück mit dem Vermerk: Adressat gestorben.

Dann dämmerte ihm, dass es eigentlich dumm war, wenn er annahm, dass ihm irgendein armes Mädchen nicht einen Kuss oder vielleicht auch einen Ring umsonst geben könnte, ohne Anspruch und ohne Verpflichtung. Arme sind doch nicht so geizig und berechnend wie Leute aus der Mittel- und Oberschicht, und schon gar nicht Mädchen, die sich selbst verzaubern möchten im Augenblick eines Märchens. Vielleicht haben sie ihn schon aufgegeben und wünschen ihm Glück, und sollten sie ihm einmal begegnen, würden sie ihn anlächeln, aber nur wie Schwestern oder wie Kinder.

Aber was würde geschehen, wenn das Schicksal sie zur gleichen Zeit an ein und denselben Ort führen würde und wenn er von Angesicht zu Angesicht eine Entscheidung treffen müsste! Solange es zwei waren, war die Wahl schwierig, aber ehrenhaft. Aber als die Dritte kam, da war es bereits ein heftiges Verlangen, das die Dämme aufriss.

Diese war die letzte. Noch kann er sie finden. Die zweite muss er vielleicht nicht mehr suchen. Aber muss er nicht alle suchen?

Das Glück wollte, dass er mit einem größeren Geschäftsabschluss betraut wurde, völlig abgesichert und profitabel. Es wurde eine neue Fabrik an jenem Ort gegründet, an dem er der letzten Liebe begegnet war. Er begab sich dorthin. Vor der Abfahrt erfuhr er von einer freien Stelle für eine junge Frau in einer Prager Kanzlei.

Es war ein schöner Herbsttag, voller Sonnenschein, Dahlien blühten und üppig hing das Obst auf den Bäumen wie glitzernde Perlen. In der Stadt war Markt mit all dem Reiz von schreienden und durcheinander wirbelnden Jungen und Alten. Fast ungern ging er zum Besitzer der Fabrik, denn aus der Stadt wehte ihm der Hauch einer betörenden Erinnerung entgegen, als ob die Schuhe der Geliebten von allen möglichen Pflastern her klapperten, als ob sie gerade hinter allen möglichen Ecken verschwunden wäre und nur noch ein Rockzipfel vorbeihuschte und verschwand. Ist sie hier oder nicht? Nach dem Mittagessen ging er durch den Park. Die Gesichter der Menschen erschienen frisch und ohne Sünde. Goldfarbenes dürres Laub raschelte auf den Gehsteigen. Die letzten Blümchen in den Beeten lachten mit verschmitztem Zauber, als ob sie alles wüssten, aber über nichts reden wollten. Auch die Drossel machte sich lustig. Und in jeder fernen Mädchengestalt, die den Blick fesselte mit dem scheuen Rhythmus der mädchenhaften Bewegungen oder mit den leuchtenden Farben irgendeines Teils der Kleidung, suchte er seine verkleidete und fliehende Geliebte.

Warum sucht er sie?

Ist es nicht eine Dummheit, dass er irgendeinem Mädchen aus einem Traum nachjagt, das sich schon vor langer Zeit im Morgennebel aufgelöst hat? Das ist, als wollte er eine Fee aus Tausend und Einer Nacht als Schreiberin in einem Büro anwerben, statt sich mit ihr auf den Weg nach Indien und in das vergangene Jahrtausend zu machen.

Die Liebe aber kann nicht überlistet, nur verraten werden. Die Erinnerung an die Begegnung mit der letzten Geliebten zischte noch immer wie Wasser auf einem glühenden Eisen. Wenn er vor ihr in das Grab fliehen wollte, wäre er noch nicht in Sicherheit. Das war eine unvergessliche Beschämung, die sich nur mit einem Kuss tilgen lässt, das war Liebe in ihrer ganzen Herrlichkeit, die sich stolz wehrt wie eine Otter. Er wusste nicht, dass er sie aufscheucht, er ahnte die Gefahr nicht, als er das träumende Mädchen sah. Er konnte nicht erraten, was geschah. Er geriet wohl in die Sackgasse eines Geheimnisses, ohne es zu wissen. Er dachte an seine Liebe, und das Bild des Mädchens weckte in ihm die Trauer über die verlorene oder verstorbene Geliebte, als blickte sie durch das gläserne Fenster eines Sarges, im Augenblick des Erwachens zur Freude. Aber da war keine Tote, da war eine Lebende. Sie wies die Rosen zurück, die für eine Tote waren. Und jetzt, wenn er tausend Mal in Not kommen und alles verlieren und aufgeben müsste, bliebe nichts anderes übrig als zu dem Mädchen zu gehen, dessen Feuer ihm das Auge für immer verbrannt hat.

Erst jetzt spürte er das Elend seiner Blindheit. Sie verschwand von ihrem Arbeitsplatz, wo er sie sicher gefunden hätte. Sie verlosch wie ein allzu grelles Licht, an das sich zu gewöhnen er keine Zeit hatte. Zurück blieb nur die Blendung.

Was würde er geben für einen Augenblick der Dämmerung, für ein sicheres Geleit! Die Liebe verbarg sich wie ein entflohenes Tier. Sie kam nicht auf Anruf. Wenn er sie aber erblicken könnte, wenn er ihrer Glut standhielte, wäre das die Liebe und würde es dafürstehen, dass er sie ansah?

Als er damals wie ein Bettler in den Laden zurückkehrte, um etwas wiedergutzumachen, obwohl er nicht wusste was, sah er nur, wie sie weglief. Er hörte nur, dass sie entlassen werden soll. Er versuchte, nüchtern zu denken und nahm an, dass es seine Pflicht sei, sich um eine neue Stelle für sie zu kümmern. Vorher wagte er nicht, sie aufzusuchen. Doch auch eine Giftschlange wird zahm vor einem liebevollen Blick.

Spät erst erkannte er, dass das Liebe war. Und jetzt war er wieder allein. Eine Geliebte nach der andern ging verloren, nur die Liebe blieb ihm treu. Aber die ist aus einer anderen Welt.

Er kam aus dem Park und ging auf dem Weg, der in die Stadt führt. Vor ihm ging irgendein Mädchen, aber es gab keinen Anlass, sie zu beachten. Sie ging schnell; der Weg war ein wenig holprig, er blickte auf den Weg und dachte an die Verlorene. Nach einer Weile kam er auf einen gepflasterten Gehsteig entlang der Fassade irgendeiner Schule. Das Mädchen trat vor ihm auf den Gehsteig, was an sich bedeutungslos war, aber mit ihr ging noch etwas Seltsames und Beunruhigendes. Ihr Schatten. Der Schatten glitt über den Gehsteig, hart und deutlich. Er eilte mit elastischen Schritten und bezauberte durch den sichtbaren Rhythmus des Atmens, die Festigkeit seiner Umrisse und die Beschwingtheit der Bewegung. Er war verfeinert und scharf geschnitten wie ein wundervolles Kunstwerk der Sonne. Der Gehsteig wurde zur faszinierenden Projektionsfläche und die Sonne zur magischen Lampe. Die Sonne schrieb mit dem Schatten des Mädchens merkwürdige Geschichten auf den Gehsteig. Es störte nicht, dass er selbst auf diesem Gehsteig ging, der Schatten ging vor ihm und er eilte dem Schatten nach. Damit er diesen holden Schatten noch mehr bewundern konnte, beschleunigte er den Schritt und näherte sich dem Mädchen bis auf zwei Schritte. Er ging hinter dem Mädchen und staunte über ihren Schatten. Seine Augen konnten kaum mithalten, um sich zu vergewissern, dass der Schatten wirklich zu ihr gehört.

Am Ende des Gebäudes mündete der Gehsteig im rechten Winkel in eine breitere Straße ein. Das Mädchen trat, ohne auf den Verfolger ihres Schattens zu achten, vom Gehsteig herunter, überquerte die Straßenbahnschienen und betrat den gegenüberliegenden Gehsteig. Es änderte sich die Richtung der Schritte und auch der Winkel des Schattens, aber der Schatten ging wieder mit seiner ganzen Anmut an der Hausmauer entlang, als stiege er aus einem See auf und ließe sich von den Wellen tragen, nur die Fußsohlen schienen noch vom Wasser umspült zu sein, oder eigentlich brach sich ihr Schatten auf dem Gehsteig. Er eilte zum anderen Gehsteig, ohne den Schatten aus den Augen zu lassen. Dieser Schatten entfachte die Leidenschaft aller Sinne. Aber das Mädchen führte diesen Schatten erbarmungslos in den Tod. Sie nahm ihn nicht einmal wahr, seine Schönheit war für sie nichts, als ob sie solche Schatten bis zur Auslöschung vergeuden könnte. Nach einer kleinen Weile verschwand dieser Schatten im Schatten eines zweistöckigen Hauses und auf dem Platz verblieb nur noch das Mädchen ohne Schatten.

Er hätte sie am liebsten eingeholt und gebeten, ihm ihren Schatten, aus dem sie sich so wenig machte, dass sein Verlust sie keinesfalls berührt hätte, zu geben oder zu verkaufen. Aber das Pflaster des Platzes und die Schlünde all der Straßen, die in ihn einmündeten, taugten nicht mehr zur Projektion des Mädchenschattens, und so beschloss er, ihr nicht mehr zu folgen. Er versuchte nur mehr, sich bedeutsame Merkmale ihres Äußeren einzuprägen, damit er sie erkannte, falls er ihr wieder begegnen würde, denn ihr Gesicht hatte er nicht gesehen. Sie trug eine blaue Strickjacke, einen dunklen Rock, weiße Strümpfe und alte weiße Schuhe; eine Mischung von Herbst und Sommer. Er verlor sie aus den Augen. Er sah das Haus des Polizeiinspektorates und überlegte, ob er hineingehen und Nachforschungen einleiten sollte, vielleicht unter dem Vorwand, nach Zeugen oder Erben zu suchen. Es kam ihm zum Bewusstsein, dass er zumindest in der Lage sein müsste, ihr Gesicht zu beschreiben. Er sah ihr gelbliches Kleid, das volle Gesicht mit den dunklen und feurigen Augen, mit den langen Wimpern und den ein wenig widerspenstigen Locken ihrer Haare; es war wie ein dunkler Schmetterling auf einer aufblühenden gelben Rose.

Nun müsste er davon eine Beschreibung für den Polizisten oder die Amtsperson anfertigen und sich noch dazu irgendeine Lüge ausdenken. Während er sich mit seinen Vorstellungen abmühte, drehte er sich auf dem Absatz herum und sah ein Mädchen in weißen Strümpfen und alten weißen Schuhen inmitten von zwei Jungen, von denen einer sie am Arm führte und der zweite lebhaft erzählte. Sie ließ sich führen wie ein verwöhntes Schätzchen, aber den Kopf wandte sie dem anderen zu, der sie so lebhaft zu unterhalten versuchte. Sie hörte ihnen zu und antwortete ihnen, neigte oder schüttelte den Kopf, errötete oder lächelte unbefangen; manchmal blieben sie stehen, dann gingen sie wieder weiter. Sie blickte auf ihre Schuhspitzen, sah über die Schulter zurück und wischte sich den Staub ab oder richtete sich die Haarnadel und überprüfte, ob ihre Jacke ordentlich zugeknöpft war. In ihren Wangen hatte sie Rosen versteckt, die von Zeit zu Zeit mit lieblicher Röte herausblickten und sich dann wieder unter leichtem Lilienweiß verbargen. Die blaue Farbe ihrer Jacke und die blaue Farbe des herbstlichen Nachmittags erweckten den Eindruck eines Veilchens, das in der warmen Herbstsonne aufblühte.

Es konnte keinen Zweifel darüber geben, dass dieses Mädchen die Eigentümerin des holden Schattens war, der ihn vorhin am sonnenbestrahlten Gehsteig so bezaubert hatte. Sie hatte wohl keinen Mangel an Freiern und die Jungen mit ihrer jugendlichen Bescheidenheit passten gut zu ihr. Aber ihnen entgegen ging ein Dritter und blieb bei ihnen stehen. Es waren nun drei um eine herum und sie konnte nach Belieben jedem in die Augen schauen, wann sie wollte; sie blickte sie herzlich an, sah sich aber immer noch um. Entweder sie wollte sich irgendwo für sich allein verbergen, oder die drei genügten noch nicht und sie wartete, ob noch irgendwer komme.

Anstelle des Schattens hatte sie nun drei lebendige Begleiter, aber diese ersetzten doch nicht ihren Schatten; sie erweckten nur Neid, der sich allerdings in drei Teile aufspaltete.

Die Ähnlichkeit der gelben Rose mit dem dunklen Schmetterling verschwand in Spinnweben und an ihrer Stelle duftete nun das herbstliche Veilchen im sonnigen Tag. Irgendwie ähnelte sie der Verkäuferin aus dem Bäckerladen. Die Locken ihrer Haare waren zwar nicht so widerspenstig und der Kopf richtete sich nicht so auf nach Katzenart, aber der Umriss des Kopfes und der Haare war beinahe derselbe. Der Gesichtsausdruck war jedoch verträumter, als ob an ihrer Anmut das Leid der Jugend und geheime Tränen arbeiteten, die in das Kissen flossen und durch die ihr Lächeln so viel lieblichen und beinahe duftenden Glanz hat. In der Hand hielt sie die Tasche; die Hände waren schlank, nur die Finger waren ein wenig abgearbeitet. Auf der Stirn lag jedoch nicht einmal ein Schatten von Falten, die die Stirn der Dienstmädchen, die in der Arbeit schnell verblühen, häufig zerfurchen. Sie konnte auch eine Arbeiterin sein, aber jetzt war nicht die Zeit, in der sich Arbeiterinnen in der Stadt herumtreiben. Vielleicht war sie arbeitslos. Das konnte daraus vermutet werden, dass sie weiße Strümpfe und alte weiße Schuhe trug, denn sonst hätte sie sich sicher neue schwarze Schuhe gekauft; Arbeiterinnen in ihrem Alter putzen sich gern heraus.

Er hörte nicht auf, sie zu beobachten. Eigentlich beobachtete er sie nicht mehr, sondern er war gezwungen, sie anzusehen. Sie blickte nach allen Seiten, gab Antworten und ihr zerstreutes Herumblicken entzückte nicht nur ihre Begleiter, sondern auch ihn. Doch nach einer Weile beruhigte sie sich, richtete ihren Blick auf eine unbestimmte Stelle, schloss die Augen halb, und dann wandte sie langsam, ganz langsam ihr Gesicht der Stelle zu, an der er stand, und sah ihn an. Das tat sie noch mehrere Male und dann blickte sie nur mehr auf ihn. Die Burschen bemerkten nichts, denn es waren drei um sie herum, und immerhin gab sie von Zeit zu Zeit entweder eine Antwort oder schüttelte den Kopf. Dann wandte sie sich wieder ab und redete lebhafter mit ihnen, um nach einer Weile wieder ihn anzusehen. Dann mussten möglicherweise alle gehen. Sie gingen ein Stück des Weges mit ihr. Noch einmal sah sie mit vollem Blick und verhaltenem Lächeln zurück. An der Straßenkreuzung trennten sich die Begleiter und sie ging allein weiter. Nun gab er die Absicht auf, die Beamten mit seiner merkwürdigen Anfrage zu belästigen, denn sie blieb vor einer Auslage stehen und blickte entweder auf die Waren oder in die Glasscheibe.  Er wusste, was das bedeuten kann. Da half nun nichts mehr. Er stellte sich ebenfalls vor die Auslage und beide sahen auf die Kämme, Spiegel, Anstecknadeln und verschiedenen Tand, während die Augen zu dem undeutlichen Bild des anderen im Glas der Auslage wanderten. Sie standen nun nahe nebeneinander und schauten, schauten, und als ihnen die Füße schon weh taten, traten sie zur Entspannung von einem Bein auf das andere, bis sich nach einer Weile ihre Schultern berührten, bis ihr Kopf beinahe den seinen berührte; und auch die Gesichter kamen sich immer näher und es fehlte nichts mehr, als dass sie sich umarmten und drückten wie in einem Szenenbild.

Sie drehte sich um und wollte gehen; sie stießen zusammen. Ihre Augen lächelten und die Wangen erröteten und sie ging einige Schritte, als er sich schnell und verbindlich entscheiden musste. Was konnte sie von ihm wollen?

Doch schon kam die Liebe, und es war einerlei, in welchem Gewand. Was ist schon dabei! Wer es auch sein mag! Was Wunder, diese Erregung verdiente, dass er für sie sogar ins Feuer spränge.

Sie sah sich noch einmal mit einem rührenden Lächeln um und war im Begriff zu gehen, wie ein Mädchen geht, wenn es den einholen soll, der sie einholen soll - als aus dem Tor eines Hauses der Chef der neuen Fabrik persönlich herauskam, mit einem zufriedenen Ausdruck der Überraschung spontan auf ihn zuging und ihn mit fester Hand am Arm nahm.

Zwei Sekunden wand er sich, bis er zur Erkenntnis erwachte, dass er diesem Mann hier und jetzt wegen eines ärmlich gekleideten Mädchens nicht ausweichen durfte. Noch einmal blickte sie mit einem Lächeln zurück, aber schon recht wehmütig, und ging weiter.

So ging der Tag unter wie ein Schiff bei klarem Wetter, wenn in ihm ein altes Leck aufreißt. Und der nächste Tag ist ungewiss, da der Wind in der Nacht die Trümmer des Lebens in völlig unbekannte Gegenden trägt und die Zeit immer tiefer entschwindet.

In der Nacht regnete es, ja es schüttete. In den Fenstern des Fremdenzimmers waren die Jalousien heruntergezogen und das Licht drang lange nicht herein. Als es sich anzukündigen begann, war es so kalt und unfreundlich, dass man nicht aufstehen wollte. Der Regen verwandelte das Aussehen des Himmels und der Stadt und vermittelte ein Gefühl der Verlassenheit und Verbannung. Es war kalt und der Wind stürmte gegen das Fenster. In einem solchen Zimmer erscheint das Wetter viel schlechter als in der Wirklichkeit draußen. Als er auf die Straße und in den Regen hinaus ging, erinnerte er sich, dass er sich nach der Verkäuferin erkundigen musste, um ihr die beantragte Stelle zu vermitteln. Wenn er noch einmal zugeben müsste, dass er für diesen Posten in Wirklichkeit keine Bewerberin hat, wäre sein Freund beleidigt und er selbst wäre blamiert und hätte in Zukunft keine Chance mehr, jemandem in solchen Angelegenheiten zu helfen. Das war der eine Grund. Außerdem wusste er, welchen Wert solche Dinge für arme Leute haben. Wenn er sich nicht darum kümmerte, dann war es, als würde er das Brot anderer wegwerfen und zertreten. Er nahm sich vor, am Nachmittag doch zu dem Amt zu gehen. Er erledigte noch einige Besuche ohne großen Gewinn und schrieb am Nachmittag Berichte. Dann machte er sich auf den Weg, weil er das nicht länger hinausschieben konnte.

Die Stadt hatte sich komplett verändert. Eine Menge Schlamm schien bis an die Dächer zu reichen; durch den Regen hatten sich alle Flecken der Fassaden vergrößert, Holzrahmen und Portale waren aufgequollen, über die Dächer, Denkmäler und Laternen schmierte sich der mit Russ und Rauch vermischte Regen, und die tiefen und engen Gassen glichen schmutzigen, ausgespülten Gossen. Die Menschen, blass und aschgrau wie Spiegelbilder in Pfützen, wischten über ihre pollenverschmierten Gesichter, dünsteten Gerüche aus, und nur das Elend der Körper, der jungen und alten, armseligen und wohlhabenden, geisterte mit verschlafenem Humor oder Missmut über die Gehsteige. Er wollte sich den Weg über den Mühlkanal abkürzen. Der Regen hatte aufgehört und aus den Bäumen fielen nasse Blätter in den Morast. Aus dem Mühlkanal wehte scharfe und trübe Kälte. Er ging Richtung Mühle und es schien noch ziemlich weit zu sein. Er kannte die Stadt nicht gut und machte vielleicht einen Umweg. Schon wollte er umkehren oder nach dem Weg fragen, als er am anderen Ufer des Grabens ein Mädchen erblickte, das aus dem Mühlbach Wasser in zwei Eimer schöpfte, die an einer über die Schultern gelegten Stange hingen. Er hat schon lange nicht mehr gesehen, wie Wasser mit einem Eimer geschöpft wird, und noch dazu von einem Mädchen und aus einem Bach. Außerdem erblickte er ihre weißen Strümpfe und Schuhe und erkannte sie; in ihnen waren die Füße, die am gestrigen Tag den schönen Schatten neben sich hergetrieben haben. Jener Schatten hatte allerdings in bläulich getönten Regenbogenfarben geschillert und der Stein des Gehsteigs goldgrau geglänzt; heute konnten die Strümpfe nur ein schmutziges Weiß haben und die Schuhe konnten in die Augen stechen wie in den Schlamm geschütteter Kalk. Aber sie hatte auch die hellblaue Strickjacke an, denn nach dem Regen war es kalt, und die Jacke schien vom Regen so durchnässt zu sein, dass es wie Nebeldunst aus ihr aufstieg. Das Bachufer war steil und schlammig. Sie musste vorsichtig hinuntersteigen und die eine Schulter mit dem Schöpfeimer zum Graben beugen, dann die andere Schulter, und die Schöpfeimer voll Wasser schwankten am Gehänge und das dunkle Wasser verspritzte seinen schwarzen Glanz wie kalte Perlen in den Bach, die Füße standen fest und mit gebeugten Knien, mit denen sie den Rock niederhielt wie einen durchnässten Strauch, die Schultern mitsamt den Brüsten hoben und senkten sich, das Gesicht war dem Wasser zugewandt und der Nacken bog sich, das Gleichgewicht haltend, als wehrte er sich gegen einen Kuss. Sie verschob die Mittelstütze der Stange genau zwischen die Schultern, ein Fuß rutschte ab, aber sie fiel nicht, sondern bog sich nur in den Knien ganz durch und stieg auf Steinen bis zur Oberkante des matschigen Ufers. Sie ging langsam in das Häuschen und beide Eimer schwebten neben ihr, als trüge sie in ihnen goldene Fische oder je einen Prinzen Plaváček (der Glücksprinz aus dem Märchen „Die drei goldenen Haare des Teufels“ – Bemerkg.d.Übs.). Sie betrat den steinernen Vorflur und streifte an den Kanten der Steine den Schlamm von den Schuhsohlen ab. Aber die Stange mit den Eimern hielt sie noch immer auf den Schultern fest, so dass ihre erhobenen Hände aussahen, als hätte sie sie um den Nacken eines unsichtbaren Geliebten gelegt.  Da schaute jemand um die Ecke des Hauses, lief herbei, kniete sich mit einem Knie hin, zog ein Stück Papier heraus und putzte ihr den Schuh, den sie an dem einen Fuß trug. Dann ergriff er ihren anderen Fuß, vermutlich den, mit dem sie beim Aufstieg am Ufer gerutscht war, und da dieser Schuh wohl noch mehr mit Schlamm verschmiert war, kniete er sich nieder, stellte sich ihren Fuß mit dem Schuh auf das Knie und säuberte ihn eifrig. Aber das Mädchen stemmte sich entweder dagegen oder wankte, weil sie sich nicht mehr schnell genug in dieser Stellung halten konnte, die Stange mit den Eimern stieß an ihre Schulter, die Eimer schwankten, einer prallte an der Schulter des Liebhabers ab und ein Wasserschwall ergoß sich über seinen Rücken. Ein Lachen erscholl und Worte erklangen, die in der Ferne nicht zu verstehen waren, in deren Klang aber der kühle Hauch einer besonderen Freude mitschwang. Dann lief der Junge irgendwohin, um sich abzutrocknen, das Mädchen trug das Wasser hinein und hängte etwas in dem kleinen Hof auf, aber ihr Kopf war durch Weiden- und Erlenzweige verdeckt, nur ihre Füße und die Bewegungen des Körpers waren zu sehen, von Zeit zu Zeit fielen ihre Hände von oben herab und kamen unter den Zweigen zum Vorschein.

Sie erhob sich auf die Zehenspitzen und streckte sich, und da war nicht mehr der Schatten vom Vortag, aber es war schön. Ein Körper, dessen Kopf hinter den Zweigen der Bäume verschwand, eine Gestalt in einer blauen Jacke, die arbeitete und einen unbekannten und unsichtbaren Fremden bezauberte, der am anderen Ufer stand, sich an eine Straßenlaterne lehnte und sich von dort nicht losreißen konnte, obwohl es kalt war, die Zeit davonlief und der Schlamm an den Füßen fror. Die Straße war fast leer, niemand wurde seiner besonders gewahr, und wer ihn wahrnahm, sah kaum das Mädchen unter den Bäumen am anderen Ufer oder erriet kaum, dass er auf sie starrte wie ein stummer Narr. Als das lange dauerte, strich eine Katze in dem kleinen Hof herum, das Mädchen lief hinüber in den Gang, und er wollte schon gehen, aber nicht zur Behörde, sondern vielmehr, um auf die andere Seite zu gelangen und einen Zugang zu dem Häuschen zu finden. Aber in der Nähe war kein Steg, und kaum war er ein paar Schritte weggetreten, sah er, dass das blaue Mädchen von neuem zum Mühlbach eilte, dieses Mal mit einem Korb. Langsam trat sie auf einen Stein im Wasser, ja fast unter Wasser, und richtete sich auf, ein sicheres Gleichgewicht suchend. Sie hatte weiße Schuhe an, ging durch den Schlamm ins Wasser, um Lappen auszuspülen, als würde eine Prinzessin zur Fronarbeit angetrieben. Sie bemerkte ihn. Sie schaute, das Gesicht ein wenig geneigt, dürstend, lieblich und zärtlich verspielt. Sie stand im Wasser wie aus einer Seerose herausgewachsen, oder vielmehr aus schwarzem Tang, das Wasser konnte sie weder erfassen noch umreißen, da war keine Nymphe mit Fischschuppen, da war ein armes, blaues und schönes Dienstmädchen.

Es war bereits dämmrig im tiefen Graben unter den Kronen der Erlen, und im Wasser wurden die Schatten der schlammigen Ufer schwarz. Das Mädchen stand im Wasser mit geneigtem Kopf, aber er fühlte den Blick ihrer Augen unverwandt auf sich gerichtet, wie auf der Lauer.  Ihr Gesicht war im Schatten, ihr Lächeln sah er nicht, ahnte es aber. Es war nicht möglich zu sprechen, am liebsten wäre er zu ihr gesprungen. Sie stand, schwieg und hatte nicht im Sinn zu arbeiten. Vielleicht läuft ihr schon Wasser in die Schuhe, sicher ist ihr kalt. Er wartete, ob sie nicht selbst sprechen und ihn etwas fragen würde, oder ob sie vielleicht überlegte, ob sie nicht ertrinken könnte.

Mehrere Male sah sie ihn an, aber das konnte man eher ahnen als sehen. Dann zog sie den Korb heran und spülte Dinge, die man nicht sehen konnte. Sie krempelte die Ärmel auf und die weißen Arme schimmerten in der Dunkelheit wie verwaiste helle Umrisse, drehten sich, wrangen etwas aus, schüttelten nicht-sichtbare Dinge durch und legten sie in den Korb zurück. Das im Bach strömende Wasser gurgelte und wirbelte von Zeit zu Zeit, als ob es sich vor ihr aufbäumte. Ab und zu richtete sie sich auf und hielt Ausschau, ob er noch nicht weggegangen ist. Sie hatte es nicht eilig, und er spürte statt Kälte in den Füßen Wärme und die Lust zu laufen, aber er musste bleiben und schauen. Dann war sie wohl schon fertig und gerade in diesem Augenblick rief jemand aus dem Hof, lief herbei und stellte sich auf den Rand der Böschung. Es war der junge Mann. Er erblickte sie im Wasser. Wegen der Dunkelheit und des rutschigen Schlamms wagte er es nicht, zum Wasser hinunterzusteigen, aber ohne zu überlegen legte er sich auf den Boden und streckte ihr die Hand hin, um sie zu sich heraufzuziehen. Sie wollte gerade nach oben steigen. Bereitwillig reichte sie ihm den Korb mit den nassen Sachen. Er ergriff ihn und stellte ihn oben auf das Ufer; dann legte er sich wieder hin, um sie heraufzuziehen.

Es hatte den Anschein, dass sie ihm ihre nassen Finger reicht, dass er sie ergreift, sie zieht wie einen goldenen Kahn oder einen goldenen Fisch, dass er sie unter den Armen fasst, fest, damit sie nicht ausrutschte, und sie zu seinem Gesicht zieht, dass sie mit einem Lächeln den Kopf wegwendet, die Hand an ihren Hals und an den Ausschnitt ihrer blauen Jacke hält, wohin der Junge, der nicht einen Augenblick gezögert hatte, sich für eine ganze Weile in den Schlamm zu legen, einen Kuss drückt; aber viel früher, als er es begriff, sprang sie wie eine Katze auf das Ufer, wich zur Seite aus und hielt sich an einigen Gerten an, die am Ufer herauswuchsen. Sie sprang fröhlich auf, ergriff den Korb, und ehe sich der Junge besann, entfloh sie mit einem unterdrückten Schrei der Freude in den Gang. Er jagte ihr nach, aber sie lief weg, und er genierte sich wahrscheinlich doch, ihr ins Haus zu folgen. Eine Weile stand er und blickte in den Gang, dann klopfte er die Kleidung ab und stahl sich langsam weg.

Gerade als dieses Märchen zu Ende ging, kam jemand von hinten und stieß gegen ihn. Jetzt erinnerte er sich, dass er an den Pfahl einer Straßenlaterne angelehnt war. Der Laternenanzünder öffnete mit einer Stange das Gas und stieß ihn dabei an. Das Licht sprang an und am anderen Ufer war überhaupt nichts mehr zu sehen. Im Übrigen war es dort still und vielleicht wird dort schon nach wenigen Augenblicken nächtliche Ruhe eintreten. Der Laternenanzünder sah ihn neugierig an und ging weiter. Da blieb ihm nichts anderes übrig als auch zu gehen.

Als er von dort herauskam, dachte er, dass dieses seltsame und bescheiden ergebene Veilchen wahrscheinlich ziemlich viele Verehrer hat. Ein bisschen Scheu und natürliche Freundlichkeit strahlte aus ihren Augen, die rein erschienen oder zumindest nicht übersättigt. Und doch sah sie auch ihn so lechzend an. Aber was kann er sagen! Ist das nicht schon die vierte?

Wenn er sich nach den Geliebten sehnt und wenn es nur eine von ihnen sein darf, muss er sich auch selbst eingestehen, dass sie nur eine von seinen Geliebten wäre. Sie waren sich gleich, aber sie war schöner und konnte mehr geben, und dann würden sie sich nicht mehr gleich sein, sie würde über die andern obsiegen. Aber hatte sie nicht schon über sie obsiegt?

Er kam an die Stelle, wo das Häuschen mit vertauschter Vorder- und Rückfront war. Dort war es fast menschenleer, einige Leute gingen schweigend vorbei. Er trat in einen schmutzigen Hof. Nicht einmal ein Hund bellte. Von der Straße kam ein Mädchen und ging durch den Hof ins Haus, sie beachtete ihn nicht. Es kam niemand heraus, er hörte nichts und ging weg.

In den Straßen herrschte reges Leben, die Leute wichen den Pfützen aus oder gingen einfach durch, die jungen Leute versuchten mit fröhlichen Gesichtern die Trübheit des abgelaufenen Tages gutzumachen, aus einigen Geschäften strahlte Licht, und wenn Leute durch einen solchen Lichtstrahl gingen, glänzten ihre Augen und strahlten ihre Gesichter, und wenn sie dann wieder in den Schatten eintauchten, war das Halbdunkel voller Rätsel. Vor den Durchfahrten wurde geplaudert und die Menschen, ob arm oder reich, gingen unverdrossen in langen Prozessionen durch den Morast.   

Von einer Kreuzung sah er zwei Mädchen kommen, von denen eines weiße Strümpfe und weiße Schuhe trug, das andere aber unbedeutend, ja nicht einmal hübsch war, wie das oft bei Mädchen der Fall ist, die sich als Begleiterin zu schönen Frauen gesellen.  Auf jeder Seite ging ein Junge mit ihnen. Sie gingen aus dem Schatten der Straße in das Licht einer Laterne auf der Kreuzung und das Licht löste langsam das Halbdunkel in den Gesichtern auf, die sich von Zeit zu Zeit hoben und die Kehle enthüllten, als wollten sie zum Würgen verlocken. Und wieder war es dasselbe wie am gestrigen Nachmittag auf dem Platz. Er spürte förmlich die Wärme ihrer nicht hörbaren Stimme, die Süße ihrer sich bewegenden Lippen auf seinem Gesicht, ihre Wange an seiner Wange, das Gewühl ihrer Locken auf seinem Gesicht und in seiner Handfläche. Aber ihre Augen irrten umher, ihr Herz flatterte unruhig wie ein heranwachsender Vogel im Nest. Sie war lieb zu allen, die ihre errötenden Wangen, ihre Augen und die bauschige Fülle der Schultern in ihrer blauen Strickjacke mit Wohlgefallen betrachteten. Sie war wie ein Brunnen am Wegrand, durch nichts umzäunt als durch Blumen, die sich nicht schützten und jeden anlächelten. Manchmal zupfte sie die Schürze zurecht und schwieg vor Freude, wenn sie schon des Lächelns und auch ihrer eigenen Schönheit müde war und wenn man ihr doch noch etwas Liebes sagte. Sie gingen langsam hin und her. Sie blickte auf die Vorübergehenden, dann wieder aufmerksam auf ihre Begleiter. Denen genügte ihre Gegenwart, ihr unruhiges Umherblicken störte sie nicht.

Dann erblickten sie sich. Sie sah ihn ein paarmal mit vollem Blick und ein paarmal aus den Augenwinkeln an, wobei sie ihm das Gesicht zuwandte, als wollte sie ihn auffordern, sich unbemerkt von der Seite heranzuschleichen und sie zu küssen. Als es etwas zu lachen gab, wandte sie sich mit halb geöffnetem Mund zu ihm um und schon drehte er sich zu ihr, da es schien, als nickte sie ihm jetzt mit dem Kopf zu, herbeizukommen. Sie begegneten sich, manchmal sah sie ihn nicht an, dann wieder sah sie ihn lange an und neigte den Kopf mit liebevoller Verträumtheit, die zu sagen schien: Ja, komm doch!

Es ging gegen neun, die letzten Geschäfte sperrten zu und nur die Straßenlampen, die Fenster der Gasthäuser und die vorhanglosen, beleuchteten Fenster der Wohnungen strahlten in die düstere Nacht. Die beiden Jungen verabschiedeten sich und gingen schweigend und sich Zigaretten anzündend weg. Aber das Mädchen und ihre Begleiterin gingen nicht nach Hause, sie wandten sich um. Aus den Augen des Mädchens kam ein trauriger, spöttischer, aber stummer Vorwurf: Wie lange wirst du noch überlegen?

Nun wandte er sich auch um und ging hinter ihnen, obwohl es ihm zu widerstreben begann. Es schien doch nur, dass die beiden Mädchen auf etwas warten, oder zumindest die Blaue, die Schönere, da die andere für sie ja nur die Beobachterin oder Begleiterin abgibt. Nur mehr wenige Menschen gingen draußen und die blickten sich um. Sie gingen so langsam, dass er nicht im gleichen Abstand gehen konnte. Er hätte entschlossen umkehren und schlafen gehen oder sie überholen und weggehen können. Die Mädchen blieben stehen. Da die Straße fast menschenleer war, blieb er ebenfalls stehen. Ihnen entgegen eilten raschen Schrittes Bekannte aus dem Gasthaus. Sie grüßten einander, aber sie hatten keine Zeit, ein paar Worte zu wechseln. Das konnte die letzte Rettung sein. Aber die Beiden gingen wieder langsam weiter, sicher und bestimmt wie eine Versuchung, der er sich nicht mehr entziehen konnte. Er spürte einen kalten Wind aus dem dunklen Wasser im tiefen Kanal und aus ihm stieg ein Geheimnis auf.

Aber warum wehrte er sich eigentlich und gegen wen?

Er ging auf dem Rand des Gehsteigs. Die Mädchen wichen ein wenig aus, aber es war nicht genug Platz. Er berührte mit dem Ärmel die Schulter des Mädchens. Sie gingen jetzt im Gleichschritt, nun alle drei zusammen, und berührten sich dabei. Seine Hand berührte die Hand des Mädchens. Es war erstaunlich; sie sah sich nicht einmal um und ließ nicht mit der geringsten Bewegung Überraschung erkennen. Wenn er doch die Geistesgegenwart nicht verloren hätte, wenn er geschwiegen hätte, während er seine begehrte und auch beängstigende und vielleicht auch verschmähte Geliebte an der Hand hielt! Da er aber nicht verstand, dass das Herz besser und freier sein könnte als er und dass das andere Herz die aufkommende Freude einfach annehmen könnte, wenn der Verstand am Ende ist, bat er mit angelernten Worten um Verzeihung. Das blaue Mädchen sah ihn mit einer merkwürdigen Verwunderung an, so merkwürdig, dass es schien, dass sie sich nicht über sein Kommen wunderte, sondern über die unnötige und banale Frage. Sie nickte nur und ging mit gesenktem Kopf und verträumten Augen.

Es schien in diesem Augenblick, dass es ein höherer Wille war, der ihn so sicher führte und alles so erstaunlich fügte. Irgendwer führte ihn an der Hand. Aber der Verstand suchte sich doch noch einen Weg.

Er versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen. Es strahlte in klarer und reiner Schönheit. Die Augen blickten zielstrebig nach vorn, im schwachen Licht der Laternen erschienen sie dunkel und tief, und unter den Wimpern verbargen sie Funken einer unbestimmten anmutigen Liebe. In ihrem Gesicht und ihrem Blick war nichts, das aufgefordert oder sich angeboten hätte, und er erkannte, dass er noch nie eine solche Sehnsucht gefühlt hatte, die Haare des Mädchens zu küssen und ihr mit andächtiger Freude in die Augen zu sehen, die sich zwar nicht senkten und die mit geheimnisvoller Glückseligkeit, aber auch mit unberührter Zärtlichkeit lächelten. Ihre stille Erwartung, ihre Ruhe, die aus dieser Begegnung eine fast unbegreifliche Selbstverständlichkeit machten, eine Verträumtheit des Körpers und des Begehrens unter einem armseligen und doch berührenden Gewand, bezauberten nicht wie ein Trugbild, sondern wie eine wunderbare Macht. Er legte seine Hand unter ihre Finger und ihre Hand fügte sich still. Jetzt erst erkannte er, dass es nicht nötig war zu reden, denn jedes Wort würde etwas verderben und schweigen war am schönsten. Und warum reden, wenn er mit dem Mädchen gehen, sie an sich drücken, ihr Kleid und ihre Schuhe betrachten und den Blick nicht mehr von ihr lassen kann? Auch sie wandte ihm das Gesicht zu, sah ihn aber nicht direkt an; sie blickte unter den Wimpern hervor.

Die andere erzählte etwas, das blaue Mädchen antwortete oder stellte Fragen und neigte sich dabei wieder zu ihrer Partnerin, er konnte also ihre Schultern und Locken ansehen, die Knöpfe ihrer Jacke zählen, sich darüber wundern, dass sie bei solchem Morast weiße Schuhe trägt und sie doch nicht beschmutzt, und auf die Reinheit ihrer Stimme horchen. Wann nur hatte er eine ähnliche Stimme gehört? Ach ja, jenes blaue Mädchen, das ihm ein Ringlein schenkte, hatte eine ähnliche Stimme! Aber sie ist es nicht. Die war fröhlicher, würde ihn sicher schon auslachen. Dann wandte sie sich ihm zu, sah ihn kurz an und ihre Lippen öffneten sich zu einem Lächeln, aber sie sprach kein Wort, ließ sich nur die Hand drücken und duldete es, das er sie am Arm nahm. Sie drückte seinen Arm an sich. Es erschien ihm seltsam, dass sie zitterte. Er betrachtete sich schon als älter und standfester.

Dann verabschiedete sich die andere, lehnte eine Begleitung ab und sagte im Weggehen mit ehrlicher Stimme ohne Neid:

„Ihr wollt doch allein sein. Lebt wohl. Gute Nacht!“

Nun waren sie also allein.

Sie hatten Morast unter den Füßen, schwarzen Himmel über sich, die Schatten der Nacht und die Lichtstreifen des Gaslichts um sich herum in der leeren Straße, als die Turmuhr zehn schlug. Sie ließen sich nicht los, traten aber doch ein wenig auseinander, damit sie freier durchatmen und die Freiheit, allein zu sein, bewusster genießen konnten. Ihr Ohrring, der für ihn ständig sichtbar war, glänzte und blitzte bei jeder Bewegung auf. Sie gingen in eine finstere Gasse und die Augen gewöhnten sich an das Halbdunkel. Sie ging mit leichtem Schritt, den Kopf geneigt, und ihre Jacke schmiegte sich mit beseligender Schönheit an ihre Gestalt. Ihre Schritte waren jetzt freier und fröhlicher, als wäre die Jugend gerade aus einem Traum erwacht. Nach langem und glückseligem Schweigen, in dem sie nur mit ihren Schritten oder mit dem knisternden Flüstern ihres Kleides redeten, wenn sie sich aneinander kuschelten, heiterte sich ihr Gemüt auf und ihre Augen begannen einander zu suchen. Das dauerte lange, nicht weil sie noch eine Scheu gehabt hätten, denn es war umso beglückender, je länger es dauerte, bis sie sich einander zuwandten und sich direkt in die Augen schauten. Aber dann erstrahlte sie zu solcher Blüte, dass die Nacht nicht genügte, um sie zu verbergen. Die Freude öffnete ihre Lippen und ließ die Zähne hervorleuchten.

„Ich bitte Sie, sagen Sie mir, ob ich gut daran getan habe, zu Ihnen zu kommen?“ fragte er in dem Bestreben, sich einzig und allein ihrem Urteil zu unterwerfen.

„Das müssen Sie selbst wissen,“ erwiderte sie mit einem schwachen Zittern der Hand.

Sie blickte auf die Spitzen ihres Schuhs, dessen Absatz sich in den Boden eindrückte. Dann hob sie die Stirn.

„Mein Herzchen,“ sage er mit gedämpfter Stimme und küsste sie auf die Stirn.

Sie schwieg wieder in glückseliger Stille mit verhaltenem Lächeln und reinem Blick. Sie ließ sich an der Hand nehmen und sie gingen bis an den Rand der Stadt.  Sie sahen sich immer wieder gegenseitig an und er war jedesmal, wenn sich ihre Blicke begegneten, versucht, sie zu küssen, doch es genügte, sie an der Hand zu führen, denn ihr Gang, ihr Körper, ihr Blick, das alles war ein einziger unaufhörlicher und süßester Kuss. Diesen Kuss fühlte er in seiner Handfläche, hörte seinen Schritt, führte ihn neben sich an der Hand. Es schien, dass dieser Kuss sich in ihren Rock und ihre Jacke kuschelt, wie sich ein regennasser Strauch mit schweren Zweigen an die Erde schmiegt, und dass der Kuss sich aus dieser blauen Schönheit emporhebt in einem weißen armseligen Hemdchen und mit ihr wegfliegt wie ein weißer Schimmer ins Dunkel, und ihm bleiben hier im Dunkeln nur ihr Kleid und die weißen Schuhe im Morast zurück.

„Hast du schon einmal jemanden gern gehabt?“

„Ja, habe ich,“ sagte sie, „aber er hat mich verlassen.“

„Dich konnte jemand verlassen?“ flüsterte er und schloss sie in die Arme, als ob er fürchtete, dass er nun selbst dafür angeklagt wird, dass er sie verließ.

Aber was ihn überraschte, war die seltsame Fügsamkeit des Mädchens. Ihr Gesicht blieb kühl, der Blick ebenso; sie wehrte sich nicht gegen seine Küsse und auch nicht gegen seine Hand, die sich auf ihre Brust legte. Der Tau des Veilchens funkelte mit demselben stillen und lieblichen Glanz aus ihrem Blick und ihrem Lächeln.

Sie war wehrlos. So vollständig fühlte er ihren Körper und ihre Seele in seinen Händen; ihr Wille war in seinem Willen. Und doch sah er eine gewisse Glückseligkeit der Stille und Reinheit. Ein Kuss genügte ihm. Es war vielleicht unklug, dass er sie küsste. Denn im Kuss ist die höchste Wonne; was sich im Kuss nicht findet und nicht fühlen lässt, lässt sich in keiner anderen Wonne finden oder fühlen; in ihm ist die Rose und Schönheit der größten Freude; nur ein Verrückter und ein Tier zerkaut eine Rose im Mund und schluckt sie. Und wenn er zu ihr in ihr Kämmerlein kommen könnte, ach nein, das ist schon ein anderes Leben, eine andere Welt!

Er flüsterte in Verzückung:

„Wenn du nur in einem zerlumpten Hemdchen wärst, nähme ich dich dennoch zu Mittag auf der Straße in die Arme und trüge dich fort -“

Sie neigte den Kopf und wartete. Dann huschte ein sachtes Lächeln über ihr Gesicht.

Irgendetwas beunruhigte ihn. Er hat heute ihre Stimme schon so oft gehört, sie klang so echt und lieb, er hörte so freudige und rührende Worte, und doch schien es ihm, dass er sie bisher nicht hörte, dass sie stumm ist.

Sie hob die Augen und ihr Blick strahlte aus der Tiefe einer schönen Mädchenseele. Es war halbdunkel, fast dunkel. Sie waren sich sehr nahe, sahen sich bis ins Herz. Sie hatten sich nichts zu verbergen und es gab nichts zu fragen.

Sicher nicht?

Sie kamen zu dem Häuschen, wo sie stehen blieb und sich an die Haustür lehnte. Der Strahl eines fernen Lichtes fiel bis hierher.

„Haben Sie schon eine andere?“ fragte sie langsam. Ihre Stimme verklang mit verhaltener Zärtlichkeit.

Da erzitterte er und umarmte sie, um sich nicht durch einen Schluchzer zu verraten. Sie stand fest und voll Erbarmen. Er wusste nicht, wohin sie in diesem Augenblick sah.

„Wenn ich wüsste, dass ich dich wieder finde, würde ich niemanden mehr in der Welt suchen! Aber sobald ich fortgehe, verliere ich dich!“

„Sie gehen wieder  fort?“ fragte sie traurig.

„Soll ich nicht?“ fragte er mit jäher Hoffnung, als wollte er sein Schicksal ihrer Entscheidung anvertrauen, „sag!“

„Warum sind Sie hierher gekommen?“

„Warum? Um dich zu finden.“

„Nur mich?“

„Da ist noch etwas,“ antwortete er zögernd, „ich habe eine Stelle besorgt.“

„Für wen?“

„Ich weiß es nicht einmal.“

„Wie könnten Sie das nicht wissen?“

„Da war damals eine Verkäuferin bei einer Bäckerfirma. Aber hier weiß niemand mehr etwas von ihr.“

„Niemand? Und haben Sie eine Empfehlung?“

Er nahm aus dem Mantel ein Schreiben.

„Hier ist sie. Aber was soll jetzt damit geschehen?“

„Wollen Sie sie mir anvertrauen?“

Er erschrak, aber es blieb nichts anderes übrig, als ihr den Brief zu geben.

„Du hast dich nicht vor mir gefürchtet und ich sollte dir nicht vertrauen? Ich bitte dich, sei mir deswegen nicht böse!“

Sie schüttelte den Kopf und war sonderbar verträumt. Sie verbarg das Schreiben und legte die Hand auf die niedrige Tür, die sich von selbst einen Spalt öffnete. Das war eine erstaunliche Wendung. Jetzt, wo alles verraten war, was verraten werden konnte, zeigte sich das Glück in solch schicksalhafter Leichtigkeit. Es zog sie unter das Dach, zu sich, führte sie, öffnete ihnen die Tür. Wer hat das eigentlich so gelenkt? Wer hat ihn geführt?

Und jetzt durfte er nicht. Nur wie eine letzte Hoffnung versuchte er eine Rettung: „Hast du mich gern?“

 Sie antwortete nicht. Er fürchtete sich, sie auf den Mund zu küssen, und doch küsste er sie. Sie wehrte sich nicht und umso größer war seine Bestürzung. Jetzt wollte er seine Liebe nicht mehr retten, jetzt konnte er nur mehr sich selbst retten.

Er fürchtete sich vor dem Wunder. Ihr Lächeln war sehr wehmütig. Er ging fort und blickte sich um. Die Tür war offen, aber sie stand noch immer unbeweglich draußen und blickte ihm nach. Er kehrte aus großer Entfernung zurück und nahm sie bei der Hand.

„Wenigstens einmal noch, ich bitte dich!“ bettelte er um ihren Kuss.

Sie ließ sich wortlos abküssen.

Er ging weg und blickte zurück. Sie stand noch immer da, still und schön. Wenn er noch einmal zurückkäme, müsste er die ganze Nacht bei ihr bleiben. Ihm wurde schwindlig. Die Liebe rief wehmütig, und schrecklich war sie anzuhören. Küssen müsste er sie und auch ihre verschmutzten Schuhe. Das hätte sie verdient. Womit, wusste er nicht, aber er wusste, dass er ihr das schuldig war. Aber jetzt war das nicht mehr möglich, heute konnte er nicht. Und damit er nicht unterlag, wenn er um die Ecke ging, eilte er mit aller Kraft in das Hotel, wo er seine Unterkunft hatte.

 


 

 


 

 

Kapitel V

 

Es war ein Herbstabend, trocken und windstill, und in den Straßen war es warm. Das Dunkel über den Dächern war sanft und wohltuend. Darunter unter ihrem Schutz glänzten und tönten tausendfach Lichter, Klänge und Lärm. Die milde Großzügigkeit des Abends ließ das Herannahen des Winters, des Elends, der Schmerzen und auch den entflohenen Mai vergessen. Die Straßenbahnen fuhren heran und entfernten sich mit besonderer Freundlichkeit und Herzlichkeit, zehntausende Menschen genossen die Helligkeit, den Schatten und auch das Tröstliche des Abends, die Leuchtanzeigen der Kinos lockten verführerisch und die Gehsteige vibrierten wie schwankende Brücken im wohligen Traum. In der Menge war eine Fülle menschlicher Blumen, viele Augen wie funkelnde Edelsteine, versonnenes Lächeln und menschliche Stimmen in ihrer bezaubernden Vielfalt. 

Nach langem Umherirren zwischen Augen und Lichtern, zwischen dem Tanz eilender Kleider und Glieder, zwischen hellen und auch düsteren Menschen und Erinnerungen, als er nicht mehr wusste, wo sonst er Beruhigung finden könnte als allein bei seiner Lampe innerhalb seiner vier Wände, schlenderte er zur nächsten Haltestelle. Er blickte der Straßenbahn entgegen, die mit triumphierendem Licht und Lärm herbeieilte, sah die Einsteigenden und Aussteigenden, horchte auf die Ausrufe der Zeitungsverkäufer, atmete den Duft gerösteter Kastanien ein, blickte auf die Mädchen in der Tramway, auf rundliche Hütchen, auf rosige Lippen und kuschelige Pelze, auf aussteigende Kinder, auf das Licht in den Gesichtern der Arbeiter, auf Schaffner und Wartende. Manchmal standen mehrere Wagen hintereinander und auf dem Gehsteig herrschte ein Gedränge. Dann leerte sich der Gehsteig wieder und jene, die lange gewartet hatten, gingen auf und ab und sahen sich ungeduldig um; irgendwer wartete wohl auf sie. Er war froh, dass lange kein Wagen kommt; niemand wartete auf ihn, er hatte niemanden, auf auf den er sich freute. Aber kaum ist ihm das bewusst geworden, näherte sich schon von weitem eine beleuchtete Zahl, und ein dröhnendes Haus auf umrahmten Rädern und mit erhellten vorhanglosen Fenstern kam angebraust und hielt gerade vor ihm. Er musste darauf reagieren und etwas tun; zurück wollte er nicht mehr. Was hätte ihn dort erwartet? Dort auf den Gehsteigen lag der Reiz des Lebens nur in künstlicher und erzwungener Betörung nach dem ermüdenden Herumwandern. Ein Traum, der selber verriet, dass seine Verwirklichung nutzlos wäre. Er sprang in den Waggon und erholte sich von der Lichtüberflutung und von seiner Unruhe vor der Abfahrt. Dieser Wagen wird ihn nach Hause bringen, oder zumindest in die Nähe der Wohnung. Zu Fuß und über die Treppe wird er endlich ankommen.

Der vordere Teil des Waggons war leer, er eilte dorthin, setzte sich in eine Ecke, und glücklich, dass die Stadt mitsamt den Gehsteigen, Parks und Lichtern unter ihm zurückweicht und dass er sich dabei ausruht über den dröhnenden und sich rasend drehenden Rädern, legte er ein Bein über das andere und richtete den Blick auf die große gegenüberliegende Glasscheibe. Sie war interessant, denn hinter ihr herrschte schwarze Finsternis, aber in ihr spiegelte sich das Innere des Waggons: Werbeschilder, Glühbirnen, Sitze, die Gesichter der Menschen. Diese Gesichter, beleuchtet von den Deckenlampen, sind im Glas auf dem schwarzen Hintergrund viel feiner als im Raum; sie gewinnen den Zauber eines Traums. Einige Leute setzten sich noch dazu, aber die waren so müde, dass sie die Nähe anderer Leute brauchten, damit sie sich an sie anlehnen konnten, zumindest mit ihrem Unterbewusstsein, wenn schon nicht mit den Schultern, darum drängten sie sich in der hinteren Hälfte des Waggons. Der Waggon ruckte, aber plötzlich schwankte er noch einmal. Ein letzter Fahrgast war noch aufgesprungen und ging, mit schnellen, kleinen Griffen gegen die Trägheitskraft des anfahrenden Waggons kämpfend, bis zum vorderen Ende.

Sein Blick fiel auf die Schuhe und dann auf die Füße mit schlanken Knöcheln und sportlichem Sprunggelenk. Das war ja ein Mädchen. Sie setzte sich in die Ecke ihm gegenüber, zog die Beine halb unter den Sitz, legte sie an den Knöcheln übereinander und glättete ihren Rock, der bis zu den Knien reichte.

Durch die Art, wie sie hereinkam und sich setzte, wurde sie sofort zur eigentlichen Lenkerin und Herrin des Waggons, der quasi nur für sie, mit ihr und nach ihrem Willen fuhr. Die Leute waren müde, aber der Waggon fuhr jetzt sicherer und die Räder unter dem Boden des Waggons begannen anders zu dröhnen und anders zu singen.

In den Fensterscheiben war nur ihr dunkler Schatten und die rote Spiegelung des Hutes zu sehen. Es war nicht leicht, einen Grund zu finden, dieses Mädchen zu beobachten, denn sogar mit geschlossenen Augen konnte man aus ihrer Nähe erraten, dass hier die Anmut einer noch nicht fernen Kindheit vorliegt, die das Recht hat, in Ruhe gelassen zu werden. Es war nicht fair, aus reinem Wohlgefallen den Weg zu ihren Augen und zu ihrem Gesicht zu suchen, welche privater und unantastbarer Besitz der Seele sind. Aber dennoch führte eine unersättliche Begierde den Blick zumindest um diesen brennenden Busch herum. Sie hatte einen dunklen Rock, vielleicht plissiert, auf dem Schoß hielt sie die Handtasche, an den Händen hatte sie Glacehandschuhe, die sich um die kleinen, zarten Fäuste schmiegten, und ihre Hände lagen ruhig und entspannt wie ein zusammengerolltes Kätzchen. Er prägte sich das ein wie ein Schüler, der unverständliche Sätze auswendig lernt und, sobald er meint, das einigermaßen zu verstehen, sich das Nächste ansieht. Da gab es viele Dinge, rosafarbene und rote, so dass darin auf den ersten Blick möglicherweise nichts zu erkennen war. Es glänzte die dunkelrosa Seide, aus der die Jacke gestrickt war; es änderte sich ihr Atmen und die unbewusste Verlockung ihrer Schultern, an die sich bisher vielleicht nicht einmal Blumen angelehnt hatten. Einige goldene Locken schmiegten sich kühn an den feurigen Rand des roten Hutes; sie leuchteten wie Gold und hatten keine Angst zu verbrennen. Auf der Stirn und in den Augen lag ein Schatten wie der Flügel einer Schwalbe, die sich im Flug auf ein schmales Sims setzt. Aber Wangen und Lippen trugen ein stolzes und feines Rosarot wie ein kostbares Strahlen, ausgehend vom reinen, vornehmen und zarten Weiß des Gesichtes. Der rosige Glanz mädchenhafter Jugend, der Zauber der seidenen Jacke und die feuerrote Glut des Hutes mit der roten, lebhaften Schleife bildeten einen harmonischen Übergang von dem roten und weißlichen Rosa bis zum glühenden Rot. Das war fast ein Signal wie Feuer in der Nacht. Aber wozu?

Er konnte an nichts anderes mehr denken, denn die Schönheit unterbricht Gedanken und Erinnerungen, und wie in einem unbekannten Garten suchte er ihre Augen. Sie waren im Schatten verborgen.

Doch plötzlich hob sie diese Augen ins Licht. Plötzlich. Doch sofort verbarg sie sie wieder im ursprünglichen Schatten. Das war beunruhigend. Aber schon waren ihre Augen wieder im Schatten gut versteckt und es war nicht möglich zu erkennen, wohin sie blickten oder ob sie halb geschlossen waren. Es schien nur, dass hinter ihnen irgendwo ein bisschen azurblauer Himmel verblieb, weit entfernt wie der Himmel zwischen dem Mai dieses Jahres und dem Mai des nächsten Jahres. Und dieses plötzliche Blauwerden blitzte in ihren Augen auf wie das Aufleuchten eines Ausblicks in alle Erinnerungen.

Tatsächlich erinnerten ihn diese Augen an etwas. Ein paar Augen. Wessen Augen? Aber nein. Jede Liebe, eine nach der andern, zog vor seinem Blick vorbei. Er hoffte, dass sie einander nicht begegneten, und wäre es auch nur in seinen Erinnerungen. Auch in seinem Herzen verbarg er die eine vor der anderen wie ein bedrohter Weiberheld. Es war nicht möglich, eine von ihnen zurückzurufen in den helllichten Tag der Erinnerung, damit er mit ihr allein sein konnte, denn er konnte sich keinen Augenblick sicher sein, ob nicht eine andere von ihnen von irgendwo herkommt und ihn vor ihr auf das Gröbste demütigt.

Aber er beschwichtigte seinen unruhigen Verstand. Eine persönliche Identität war ausgeschlossen; sie konnte nicht eine von ihnen sein. Aber welche von ihnen stahl sich wie eine blaue Erinnerung von weit her in diese unschuldig und glühend verträumten Augen. Schon begann der vertraute Zauber der Liebe sein Herz und seinen Verstand zu ergreifen. Was macht es aus, ob das nur ein Mädchen aus der Stadt ist, ob das alles bloß merkwürdig und grundlos ist! War das eine tückische Fortsetzung? Der Verstand, der vor einer Weile aus der beklemmenden Unsicherheit heraushalf, verkroch sich plötzlich wieder in der Ecke. Es war ein wonniges Gefühl, sich bewusst zu werden, dass er die Schönheit und schicksalhafte Kraft der Liebe dieses Mädchens schon erkannte.

Er suchte. Beobachtete sie ihn? Und wenn, so störte es ihn nicht, vor allem wenn er ihr nicht in die Augen sah. Vielleicht huschte gerade ein unsichtbares Lächeln über ihre Lippen. Gewiss war jede Faser ihres Wesens mit Leben erfüllt. Er sah ihr ins Gesicht. In der vollendeten Anmut dieses Gesichts gab es keinen Zug, der nicht dem Gesamteindruck entsprochen hätte. Es war wie ein Bild, das mit einem einzigen Hauch aus einem einzigen Funken gebildet wurde, wie eine Linie, die in einem Zug begonnen und abgeschlossen wurde, wie eine Blume, bei der alle Blütenblätter aus einem Spross entsprangen. Man kann sich aus ihrem Gesicht keinen besonderen oder einzigartigen Zug merken, nur einen bestimmten Grad eines besonderen Liebreizes, der aber nur mit dem Herzen spürbar, nicht mit den Augen erkennbar war. Es schien, dass alles, auch die Art, wie sie ihre Füße kreuzte und zurückzog, wie ihre Hände ruhten, wie sie ihre Schultern entspannte, sowie die jugendliche Frische des freien Halses und die Verdecktheit des Blicks, eine große Disziplin verriet, sowohl eine angeborene als auch anerzogene. Aber man konnte nicht von Stolz sprechen; vielmehr ging von ihr eine Zärtlichkeit der Morgensonne aus, und ihre Zurückgezogenheit und Unabhängigkeit waren vielmehr eine besondere Gunst für ihn, wie ein Segen dieses Augenblicks.

Er hatte genug Zeit, um sie anzusehen, sei es wirklich unbeobachtet oder zumindest ungestört, und sie sich einzuprägen wie ein schönes, aber nicht leichtes Lied. Doch die Zeit enteilte, eigentlich enteilten die Stationen, eine nach der anderen. Vor jeder Haltestelle befürchtete er, dass das Mädchen schon aufstehe und zum Abschied nur die Schönheit ihres Schrittes zeige, dann würde er gerade noch ihren roten Hut auf der hinteren Plattform des Waggons sehen, ehe sie in der Dunkelheit verschwindet.  Aber sie fuhr doch ziemlich weit, fast wie absichtlich für ihn. Je weiter sie fuhr, desto ungeduldiger wurde er. Alle Vernunft entfloh, Erinnerungen entflohen, Betrübnisse entflohen. Alle Freude aus unbekannten Anlässen, unerklärlich und machtvoll, sammelte sich aus allen Jahren seines Lebens in diesen Minuten, am liebsten hätte er die Hand nach diesem Mädchen ausgestreckt, hätte es umfasst und gedrückt mit aufstöhnender Freude, ungeachtet all der Leute. Er berechnete, wie viele Stationen noch übrig blieben bis zur Endstation, obwohl er Zahlen hasste. Aber was liegt schon an den Stationen! Jetzt trägt ihn die Freude, das Schönste, was das Leben zu bieten hat. Wer würde da rechnen!

Da machte der Waggon einen Ruck, das Mädchen hob den Kopf wie ein Reh, stand auf und lief los. Schon! Schon! Er schrak auf und die Bank hielt ihn fest und presste ihn wie gelähmt zusammen; aber er riss sich los und sprang aus der Elektrischen, die sich inzwischen schon wieder in Fahrt gesetzt hatte. Auf der Straße war es ziemlich dunkel, obwohl da eine Kreuzung war. Er sah um sich, welche Richtung sie eingeschlagen hat. Da waren vier Richtungen, viermal begegnete er schon der Liebe; in jeder Richtung stößt er vielleicht auf sie. Da erblickte er sie im tiefen Schatten und eilte ihr nach, obwohl er Angst, Beklemmung und Unentschlossenheit fühlte vor dem völlig neuen Geheimnis der neuen und bisher unerreichten Geliebten, aber die Freude trieb ihn gegen seinen ohnmächtigen Willen.

Sie ging allein; niemand hat sie also hier erwartet. Um so sicherer nahte sich das Schicksal. Auch sie eilte. Immerhin war sie allein und es war finster. Sie sah sich nicht um bei seinen eiligen Schritten, auch nicht als er bereits hinter ihr war, sondern sie wich nur an eine Hausmauer aus, vielleicht damit der Eilende in der Dunkelheit nicht auf sie stieß.   So geriet er an ihre linke Seite. Er grüßte. Noch ehe sich die Erregung legen konnte, erklang die reizende und unbekümmerte Stimme so lieblich, dass nur für diese Stimme das ganze Leben dafür stand:

„Ich habe mich gewundert, wer es da so eilig hat. Da konnte ich nicht ahnen, dass Sie hinter mir gingen. Aber hier ist es finster, nicht wahr?“

Wie froh war er, dass die Dunkelheit so tief war, besonders auf dieser Seite der Straße. Es lag so viel Sicherheit in ihr, dass er sie ohne Worte und Einleitung an sich drücken und küssen könnte und nicht einmal befürchten müsste, dass sie sich wehren würde. Aber als er schon den ersten Strauß ihrer lieblichen Worte erhalten hatte, war er nicht mehr in Eile, hatte er fast schon gewonnen. Er riskierte es nicht, den gefangenen Vogel zu erschrecken und ihm den Atem zu nehmen; damit er weiter singe, sehr lange! Er glaubte, dass er sich in diesem Augenblick als ihr Begleiter eignen würde, denn die Straße war menschenleer, obwohl es noch nicht so spät war, und der Weg führte sie in eine abgelegenere Straße. Aber die Vernunft und die Vermutungen waren so dumm! Wer weiß, was sie sich dachte, doch was bedeutet das schon! Jetzt war keine Zeit nachzudenken; jetzt wollte nur die Freude strahlen, singen, zuhören und sehen. Wer sie ist, was sie arbeitet, ob sie arm ist, was sie denkt und was sie will - das gehört hier und jetzt nicht dazu.

Was ihn letztes Mal führte, das war die Hand eines göttlichen Boten. Zu spät wurde ihm das damals bewusst. Was ihn jetzt antrieb, war die Freude. Allein die Freude.

Die Dunkelheit lockte und deckte die süße Untreue zu. Vielleicht hatte es das Mädchen eilig und die Erregung der ersten Ungewissheit verwirrte die Rede, doch das Halbdunkel gab Geborgenheit. Als ihm gelang, sie durch sein erstes Schmeicheln zum Lachen zu bringen, erkannte er am Klang der Stimme, dass da Freude mitschwang. Ziemlich weit von der Station der elektrischen Straßenbahn entfernt, aber doch viel zu bald kamen sie zum Tor eines einfachen Mietwohnhauses mit einem kleinen Durchgang.

„Hier wohne ich also,“ sagte sie und blieb vor dem Tor stehen, wandte sich zur Straße um und redete mit ihm noch eine Weile über alltägliche Ereignisse des abgelaufenen Tages mit einer heiteren mädchenhaften Bescheidenheit, die froh ist, dass sie die Tagesarbeit erledigt hat und jetzt Zeit für eine kurze, aber lebhafte und verträumte Freiheit findet.

„Wohnen Sie auch hier irgendwo?“ fragte sie dann.

„Nein.“

„Und warum sind Sie so weit mit mir gegangen?“

„Als ich Sie in der Elektrischen sah, wollte ich wissen, wo Sie wohnen.“

„Lag Ihnen etwas daran?“

„Ja.“

„Sie wollen also alles im Sturm und auf einen Schlag erobern!“

„Ja.“

„Das ist gut, das gefällt mir!“

Ihre Augen waren im Schatten des Hutes nicht zu sehen, aber ihr Glanz schwang in ihrer Stimme mit. In dieser Stimme war auch ihre Gestalt zu spüren, voll zärtlicher Kraft, die erblühte Schönheit der Schultern, von denen Stolz und auch Verträumtheit wehten, der Körper ruhig und anmutig gespannt in unermüdlicher und reiner Freude, die lieblich reine Ruhe des Atmens, die festen und sieghaft schlanken Beine, deren Knie, wie aus dem Spiel des Rockes zu erkennen war, sich gerade stolz entfalteten wie Knospen, deren Kelchblätter sich nicht mehr zurückhalten, und es schien, dass Schlankheit und Geschmeidigkeit durchklingen. In dieser Stimme war auch das seidige und freudige Knistern ihrer Kleidung zu hören, voll von ihrem rosenhaften Zauber, der ihrer Anmut den Reiz der Anschmiegsamkeit hinzufügte.

Aber darunter leuchtete noch ein goldener Funke wie ein Glühwürmchen aus der Tiefe einer Blume, in die man nicht gelangen kann. Es schien, als würde die Seele in der Nacht hinter einem siebenfachen Vorhang heimlich ein kleines Licht  anzünden, das er vielleicht nicht sehen sollte, das zu erblicken er aber doch froh war.

„Und was wollen Sie eigentlich?“ fragte sie plötzlich.

„Was?“ besann er sich schnell; „ich habe einmal von einem Bettler gelesen, der einen Knopf fand und sich wünschte, dass ihn jemand an sein Hemd annähte. Ich habe auch ein Knöpfchen gefunden, aber zu ihm im Hemdchen gehört noch ein Mädchen.“

„Das ist hübsch,“ sagte sie mit einem fröhlichen Lächeln; „und haben Sie dieses Knöpfchen noch?“

„Soll ich es bringen?“

„Wenn Sie es finden, bringen Sie es!“ rief sie fröhlich, schlüpfte in das Tor und aus dem Dunkel der Durchfahrt war die lebhafte Freude ihrer Schuhe zu hören, die in den Hof und dann auf die Treppe entflohen.

Ein Lied begann sich zu formen und in der Straße mit den Gehsteigen und den beiden Häuserreihen im matten Licht der wohlbekannten und doch so geheimnisvollen Straßenlaternen zu erklingen. Erstaunt betrachtete er das Haus, die alte und die neue Nummer des Hauses, die Schilder der Gewerbetreibenden und das Aussehen der Straße, und er vergaß nicht, das Straßenschild zu suchen. Vor den Häusern bummelten noch einige Leute, die sich schon darauf zu freuen schienen, dass die Leute endlich schlafen werden. Es schien, dass die Häuser zufrieden schnurren wie Katzen in der Nähe des Ofens. Er selbst fühlte auch einen Moment stillen Glücks.

Die Nacht war dunkel, ohne einen einzigen Stern. In der Erinnerung ging er alles noch einmal durch, was ihm vom heutigen Abend noch in den Sinn kam, bestrebt, den ganzen Film abzuspielen. Er eilte nach Hause, damit er von allem noch einmal in aller Ruhe träumen konnte.

Er hatte nicht gewusst, was ihm begegnen würde, als er heute Abend ohne Ziel aus dem Haus ging. Die Rose blühte jetzt in der Nähe. Er musste ihr nicht mehr durch Städte nachreisen, musste nicht mehr fürchten, sie nicht zu finden. Schon wusste er, wo sie wohnt, fast wider Erwarten, als ob sie sich schon das Wort gegeben hätten. Weit weg im Dunkel blieben Rätsel, blieb ein Geheimnis, das Mädchen, das Rosen zurückwies, das Mädchen mit dem anmutigen Schatten, und die übrigen. Zwar quälte ihn der Stachel des Gewissens, doch das war eigentlich schon ein Dorn der neuen Rose, für die man sich wohl stechen lassen kann. Er kann nicht einer lebendigen Liebe entsagen wegen der Liebe zu verzauberten Schatten.

In der nächtlichen Stunde, in der der Mensch das Recht hat, alle Gedanken an die Ernsthaftigkeit des wirtschaftlichen Handelns und des Lebensunterhalts wegzustoßen, und in der es erlaubt ist, sich Märchen hinzugeben, arbeitete der Geist sehr schnell, obwohl er mehr belastet war als der müde Körper. Die Liebe ist wichtiger als das Geschäft und für sie ist es notwendig, den Zustand zu ertragen, der im Geschäft am helllichten Tag unter vernünftigen und ernsthaften Menschen als unwürdig betrachtet würde. Im Geschäft kann man gewöhnlich abschätzen, wie viele Schritte für einen bestimmten Ertrag nötig sein werden; in der Liebe jedoch nicht. Und doch sträubt sich irgendetwas in der Seele gegen diese Ungewissheit.

Er wunderte sich, wie leicht er den Schmerz und Zauber der letzten Liebe und all seine Absichten vergaß. Es schien ihm, dass all diese Bilder mit ihrem Bild verschmolzen. Von den andern hatte er ohnehin keine deutlichere Vorstellung mehr als die Vorstellung des Glanzes, vielleicht der verschiedenen Farben, die einst blendend waren, aber auch die äußere Gestalt verblassen ließen. Er erinnerte sich an die letzte Begegnung im ländlichen Stadtteil. Es interessierte ihn wohl, ob sich für die Stelle, die er vermittelt hatte, schon eine gemeldet hatte, und welche von ihnen das eigentlich war. Die Verkäuferin hatte ihn selbst zurückgewiesen, das blaue Mädchen hätte sich zwar von ihm Liebe verdient, hat aber gewiss das Vertrauen zu ihm verloren; er fühlte sich in ihren Augen beschämt. Er hatte überlegt, ob er sich noch einmal, vielleicht zu spät, von neuem um ihr Vertrauen bemühen sollte, aber da kam der heutige Abend dazwischen wie ein bestimmtes und sicheres Zeichen.

Die Vergangenheit war dunkel; es gab keine Wege, die zu ihr geführt hätten. Ein einziger Weg konnte vielleicht noch zu dem blauen Mädchen führen. Er ahnte jedoch, dass sich gewiss auch hinter diesem Mädchen schon dieses schicksalhafte Dunkel geschlossen hatte wie hinter den anderen.

Er suchte Liebe. Nun zeigte sie sich wieder, unerwartet, als er sie vielleicht nicht mehr erwartete; immerhin sprang er aus der Elektrischen mit einer so leichten Sorglosigkeit, ohne Absicht und Überlegung. Und jetzt hat er zu ihr einen schon fast bekannten und sicheren Weg. Er durfte nicht mehr zaudern.

Noch hatte er sie in heißer Erinnerung. Er fühlte ihre sprechenden Lippen und den roten Charme ihres Hutes mit den hervorquellenden Locken; sie war lebhaft mit einem rosigen Lächeln, als stände sie jetzt neben ihm und müsste nur noch zu reden beginnen.

Aber er wollte sich noch Gewissheit verschaffen.   Er versuchte noch einmal und letztmalig etwas über die Vergangenheit zu erfahren.  Entweder darüber, wer die Stelle antrat, oder über das, was das blaue Mädchen machte. Da war ein Dorn, der bis ins Herz stach, aber er möge stechen, wenn er nur zumindest eine Rose sicher hat.

Er versuchte mit aller Kraft das Bild von irgendeinem der Mädchen heraufzurufen. Er sah die Locken, das Lächeln, die Kleider in verschiedenen Farben, Schürzen und Schuhe, aber als er schon alles, alles beisammen hatte, erkannte er, dass er anstelle ihrer Gesichter und Körper das Gesicht und den Körper des Mädchens mit den rosigen Farben sieht, welches sich darüber wundert und beunruhigt ist, dass es in solch seltsame Kleider unbekannter und unwirklicher Mädchen gekleidet wird, in Kleider, die einem Kleiderkrämer gehören, aber nicht ihm.

Diese traut er sich zu finden und zu erkennen, aber die anderen nicht mehr, es sei denn, sie hätten ein Wunderzeichen. Aber ist es nicht ein Zeichen, dass sich endlich das Glück nähert?

Schon kennt er sie; er wird mit ihr gehen, sich an die lilienweiße und rosenfarbene Schattierung ihres Gesichtes erinnern, an die Form ihrer Zähnchen, die Farbe der Haare, ihre Bewegungen, Einfälle und Launen, er wird ihre Knöpfe zählen, wird wissen, welche Steinchen sie in den Ohrringlein hat, wie sie sich ärgern kann, und ob sie weinen und bitten kann. Er verlor sich in Träumen von ihr. Wieder spürte er unter sich die Erschütterungen der elektrischen Straßenbahn, wie der Wagen stehenblieb und er aus der Ohnmacht der Unentschlossenheit erwachte, aus dem Wagen sprang und sie wieder vor sich sah. Er eilte ihr nach, es war dunkel, er fing ihre Worte aus allen Straßenecken und aus der ganzen Stadt auf, und erst der wirkliche Schlaf entzog ihm diesen Traum.

Am zweiten Tag sah er sie nicht, aber schon machte er sich ihretwegen keine Sorgen mehr. Nach einigen Tagen, als er beim Haus auf sie wartete, schlüpfte sie in einem Moment der Unaufmerksamkeit hinter ihm in das Tor. Das vertraute Lied ihres Schrittes riss ihn heraus und er blickte in die Durchfahrt. Sie drehte sich um, als sie schon im Hof war, und sah ihn mit dem rosigen Lächeln einer solchen Freude an, dass er auf der Stelle zu ihr hinspringen und sie dafür auf den Mund küssen wollte, mochten die Leute im Hof und im Haus sagen und tun, was sie wollten.  Das war aber so hold und zärtlich, dass er sie vor Staunen entschwinden ließ, was ihm sehr leid tat.

Nach einigen Tagen eilte er auf dem Gehsteig in ein Geschäft und erblickte eine Tramway. Aus dem Fenster winkte ihm jemand lebhaft und freudig zur Begrüßung zu. Das war sie, frisch und anmutig. Er rannte und es gelang ihm, in den Wagen zu springen. Sie lächelte wie zur Belohnung und im gleichen Atemzug fragten sie sich gegenseitig, wohin er und wohin sie fahre.

„In die Arbeit,“ war die gleiche Antwort.

Er stieg natürlich in seiner Station nicht aus; er fuhr mit ihr weiter. Als sie ausstieg, reichte sie ihm die Hand zum Abschied.

„Ich steige hier auch aus,“ überraschte er sie; und das war keine Lüge, denn er stieg wirklich aus.

Sie beeilte sich, weil es schon die Uhrzeit war, in der sie im Büro eintreffen sollte. In der Eile wunderte sie sich nur, dass sie die gleiche Richtung haben. Dann blieb sie bei irgendeinem Haus, in dem eine große Firma war, stehen und gab ihm die Hand.

„Hier sind Sie beschäftigt?“

„Ja, zumindest wissen Sie wieder etwas über mich!“

„Bei dieser Firma?“ fragte er erstaunt.

„Ja, aber ich muss mich schon beeilen, leben Sie wohl!“

Sie lief weg und vor Verwunderung vergaß er, ihr nachzusehen. Er stand auf dem Gehsteig, und als viele Leute an ihn anstießen, ging er auf den gegenüberliegenden Gehsteig. Von dort aus betrachtete er das Haus, ein alltägliches und beinahe gespenstisches Haus, starrte auf das Firmenschild, und dessen Zustand entsprach seinem Schrecken über die geisterhafte Erscheinung. Als die Spannung des müden Körpers nachließ, ging er langsam hin und her und dachte dabei überhaupt nicht an seine berufliche Arbeit.

Listig hatte ihn das Schicksal vor dieses Haus gelockt. Alle Vorstellungen kehrten sich hier gewaltsam um und das war verdammt bitter. Aber in einem Anfall von Trotz gab er sich einen Ruck, und in der Meinung, dass es auf ein Viertelstündchen nicht ankomme, wenn er sich auf die katastrophale Sache einließ, betrat das Haus. Treppauf treppab gingen Angestellte und auch junge Mädchen. Er sah, dass es unnütz war, sie zu betrachten, denn er erfuhr alles ganz gefahrlos.

Er begab sich zum Kanzleichef, der ein guter Bekannter war, und traf schon im Vorzimmer mit ihm zusammen. Das Vorzimmer war klein und dämmerig, sie erkannten sich fast nicht. Der Chef eilte irgendwohin mit Akten in der Hand und fragte ihn nur flüchtig, was er wünsche. Die Tür zum Büro war offen und daraus drang in seine Augen ein Licht, das ihn hier im Halbdunkel des Vorzimmers blendete.

„Ich habe mir einstmals erlaubt, Sie um eine Anstellung für ein Mädchen zu bitten und Sie waren so liebenswürdig zu versprechen –„

„Gut –„ brummte der Chef ernst.

„Ich bitte Sie, wurde die Stelle schon angetreten?“

„Natürlich,“ antwortete der Chef eilig. „Was ist?“

„Mir passierte eine unangenehme Sache“, sagte er mit unsicherer Stimme, was unter Geschäftsleuten ungewohnt ist; „ich brauche ihre Adresse und habe sie verloren.“

„Wie das? Sie wissen doch schon, dass sie hier ist.“

„Wenn ich schon hier bin, könnte ich sie einen Augenblick sehen?“

„Ohne Weiteres, gehen Sie nur hinunter und fragen Sie!“

Der Chef hatte es eilig, gab ihm die Hand und ging.

Da war nur eine Tür, durch die man eintreten konnte, wenn man hineingehen musste, und die war schon offen, damit man es sich vor der verschlossenen Tür vielleicht nicht doch noch überlegen konnte. Er stolperte hinein. Da war der Tisch des Chefs und zwei Tischchen für die Schreiberinnen. Von den beiden Damen war eine dort, und das Schicksal erwies sich als äußerst ungünstig. Sie hatte zwar keinen roten Hut und auch keine Jacke, aber er erkannte sie dennoch. Nun wird ihr nichts mehr verborgen bleiben, ganz im Gegenteil, er muss ihr alles über sich sagen.

„Herzlich willkommen“, rief sie freudig; „das habe ich nicht vermutet, dass ich Sie so bald wieder sehen würde, und noch dazu hier!“

„Ich auch nicht,“ antwortete er der Wahrheit gemäß, die ihm in diesem Augenblick schwer fiel wie ein Felsblock.

„Was führt Sie zu uns?“

„Nichts. Ich suche ein Fräulein und der Chef sagte mir, ich soll hier hereingehen.“

„Sie kommt gleich! Setzen Sie sich inzwischen!“ Er setzte sich und sah aus einiger Entfernung, wie sie etwas einordnete. Er hatte seine Gedanken noch nicht beisammen, als das andere Fräulein kam.

„So, da haben Sie sie,“ sagte sie ihm, wobei sie ihn und das eintretende Mädchen beobachtete.“

Er stand auf und sah sich um, wurde aber stutzig.

„Nein, diese Dame ist es nicht“, entschuldigte er sich.

„Und welche suchen Sie!“

„Das ist es ja gerade, was ich nicht weiß. Kennen Sie das übrige Personal?“

„Ein wenig.“

„Es ist eine junge Frau; sie muss Ihnen ziemlich ähnlich sehen und ist noch nicht lange hier.“

„Das weiß ich wirklich nicht,“ sagte sie nach kurzem Nachdenken.

Sie berieten sich. Das Personal wechselte häufig und außerdem änderte sich die Arbeitszeit je nach Vereinbarung. Sie bot ihm an, dass er mit ihr ginge, um sich an allen Arbeitsplätzen umzusehen. Er zierte sich, aber sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn in die Buchhaltung und in die Expedition. Er sah viele Augen, junge und alte, ruhige und lechzende, aber was er suchte, fand er nicht.

„Kommen Sie am Nachmittag wieder,“ sagte sie zu ihm.

Er dankte und ging. Diese Begegnung verlief wie in einer amtlichen oder geschäftlichen Angelegenheit. Ihr mädchenhafter Charme war auch darin groß, aber jetzt wehrte sich in ihm alles, ihm zu erliegen. Erst als er draußen war, überfiel ihn der Trotz.

Mehrere Male fand er sich zur Zeit des Dienstantritts oder des Dienstendes des Personals ein, um die Leute zu beobachten. Diese paar Tage waren eine schlimme Zeit, die aber noch aufregender verflog, als er es sich wünschte. Etwa zwei oder drei Mal erblickte er von fern sein Mädchen in den leuchtenden rosa und roten Farben, wenn sie kam oder wegging. Sie wich ihm aus, obwohl er ihr am liebsten nachgeflogen wäre. Aber vergeblich. Was er suchte, fand er nicht.

Er lauerte, um sie zu finden, und musste sich sorgfältig umsehen, damit er nicht von seiner letzten Geliebten beobachtet wurde. Es vergingen einige Tage. Er wurde ungeduldig.

Eines Tages beschloss er, zum letzten Mal hinzugehen. Es war in den Abendstunden. Er rechnete sich nach seinen bisherigen Beobachtungen aus, dass das rosenrote Mädchen an diesem Tag und in dieser Stunde nicht von der Arbeit kommt und er vor dem Haus sicherer auf und ab gehen konnte. Er beobachtete sorgfältig alle herauskommenden Mädchen. Einige kannten ihn bereits und ihre Augen blitzten ihn mit einem katzenhaften und etwas spöttischen Lächeln an, wenn sie ihn da herumgehen sahen, immer so vergeblich. Die ganze Straße war erfüllt von Begierde, von Trauer und einer gewissen Beklemmung. Die Durchfahrt war schwarz, jede Gestalt, die herauskam, geriet in den trüben Schein der Laterne, der ziemlich fern und matt war. Die Abenddämmerung war hier eher düster als verlockend.

Plötzlich hörte er hinter sich ein merkwürdiges Geräusch von Gummiabsätzen, raschelndem Stoff und Samt, den gedämpften Klang von Mädchenschritten, und der anmutige und lebhafte Rhythmus der Glieder war ihm so vertraut, dass er sich umblickte. Er erblickte die Blume des Glücks. Der leichte Duft des Kleides begleitete sie und an das Hütchen drückten sich seitlich tiefgoldene Locken. Sie sah ihn an, lächelte und fragte, was er mache. Er war sehr überrascht, als er sie erkannte.

Die ganze Sehnsucht zwang seine Hand, sie hier auf der Straße zu umfassen und an sich zu drücken. Aber plötzlich erschlaffte seine Seele. Er fühlte sich gedemütigt; ihre Worte kamen frei aus dem Herzen, seine Worte stockten. Gern hätte er ihr zugehört, selbst wenn sie ihm tausend Fragen gestellt hätte, wenn er selbst nur hätte stumm bleiben können. Es erschien ihm, dass jedes Wort, das er gesagt hätte, unaufrichtig, fehl am Platz und verhext gewesen wäre. Er fühlte sich wie einer, der sich zum Brunnen kniet und stirbt vor Durst. Und doch war dieser Brunnen so schön! Er atmete von ihm den Reiz der Liebe und Einsamkeit ein. Aber je näher und schöner sie war, desto stärker ergriff ihn das Entsetzen. Er hätte nicht einmal mehr lächeln können und es schien ihm, dass all sein Lächeln in seinem Leben aufgesetzt und erzwungen war wie die Worte der üblichen Ausreden, denn ein Mann hat nicht das Recht, einfach zu lächeln.

„Ich habe mein Knöpfchen verloren,“ sagte er leise, „und vergeblich suche ich es.“

„Welches Knöpfchen?“ fragte sie, sich nicht erinnernd.

„Wissen Sie es nicht mehr? Jenes, das ich Ihnen bringen sollte."

„Das war irgendein seltsames Knöpfchen“ sagte sie und dachte nach.

Wortlos stieg er in einen Straßenbahnwagen und sie fuhren nach Hause, nämlich zum Zuhause des Mädchens. Die Straße bei der Haltestelle war wieder dunkel und leer wie bei der ersten Begegnung. Aber er musste sie nicht einholen, vielmehr musste er sich zwingen, die Seele mit sich zu schleppen, denn nur der Körper ging, wie ein stummer Hund. Sie fragte, warum sie ihn so lange nicht mehr gesehen hat. Er antwortete, dass er sie immer gesehen hat, dass er aber Angst hat.

„Vor mir?“ rief sie erstaunt, „warum?“

„Es gab auch Zeiten, in denen ich mich nicht gefürchtet habe“, antwortete er, die Worte abwägend; „aber jetzt strebt bei mir alles auf ein seltsames Ende zu. Alles rächt sich mir jetzt!“

„Was?“

„Ich habe schon etliche Geliebte gehabt und habe gedacht, sie wären gestorben. Aber sie leben, sie begegnen mir und ich sehe sie nicht. Früher habe ich gesucht, jetzt würde ich am liebsten weglaufen.“

„Wohin?“

„Nirgendwohin. Nur Selbstmörder fliehen. Aber warum wollen Sie das jetzt wissen? Kann Sie das jetzt noch interessieren?“

„Dieses Knöpfchen ist also wohl von einem verlorenen Mädchen?“

„Ja.“

„Und was, wenn sie ohne es käme?“

„Ach, das wäre schon vergeblich!“

„Warum? Warum reden Sie so?“

„Ich sehe, dass ich allein bleiben muss, denn ich kann mir keine von ihnen aus der Seele reißen.“

„Waren sie so schön?“

„Ach, im Vergleich mit Ihnen oder neben Ihnen keineswegs. Aber ich kann Ihnen meine Liebe nur zu Füßen legen, aber nicht hingeben. Das ist mir nicht erlaubt.“

„Ich frage nicht nach derlei Dingen. Aber wenn ich Sie wäre und hätte jemanden gern, würde ich nichts außer Acht lassen. Oder es ist keine Liebe. Haben Sie sie jemals gefühlt?“

„Ja, ich erinnere mich. Einmal bin ich in der Nacht durch einen Wald in eine Stadt gegangen, in der ich niemanden hatte. Ich hatte nämlich..., aber das ist nebensächlich. Solche Wanderungen in der Nacht und in unbekannten Gegenden taten mir gut. Das war die schönste Nacht meines Lebens.“

„Die schönste“, sagte sie mit einem leisen Seufzer; „was hatte dieses Mädchen in dieser Stadt als Schönstes?“

Für einen Moment schwieg er; dann flüsterte er:

„Die Sehnsucht der Armut.“

Sie senkte den Kopf und schien betrübt. Schon wollte er das Gespräch auf etwas Heitereres lenken, als sie sich plötzlich aufraffte, ihm die Hand gab und lebhaft sagte:

„Wann sehen wir uns wieder? Aber so will ich Sie nicht mehr sehen!“

„So ist es mir also erlaubt, wieder zu kommen?“

„Nein; erst wenn ich aus diesem Haus wegziehe! Leben Sie wohl!“

Sie drückte ihm die Hand und verschwand in der Durchfahrt. Er ging langsam fort in dem Bewusstsein, dass wieder ein Blatt des Lebens vollständig umgewendet wurde. Ihre Worte verwandelten sich in einen einzigen Urteilsspruch:

„Suche!“     

 


 

 

Kapitel VI

 

 

Es schien ihm, dass er Geliebte wie Sterne am Himmel haben wird. Fünf von ihnen strahlten mit zehn Augen, zehn Sternen. Sterne machen manchmal Angst.

Deren waren nun schon genug, immerhin ist die Liebe die größte und schwerste Aufgabe des Menschen. Wenn doch die zunehmende Anzahl wenigstens ihre Qual abschwächen würde! Ihm graute bei dem Gedanken, dass er noch einmal einem neuen Gesicht der Liebe begegnen müsste. Jakob diente für Rebekka sieben Jahre lang ihrem Vater, aber er musste sieben oder vielleicht vierzig Jahre in die Wüste der Trugbilder geführt werden, ohne Vereinbarung und ohne Gewissheit, nicht wissend wohin.

Aber er erinnerte sich an die Vergeblichkeit seiner früheren Nachforschungen und es erfasste ihn eine unbestimmte Furcht, womöglich auch auf Dinge zu stoßen, die nicht dafürstehen. Er versuchte sich einzureden, dass eine Frau nur das ist, was die Vorstellung des Mannes aus ihr macht, dass ihre Schönheit im Herzen des Mannes entsteht, und wenn schon der Mann irgendeine Schönheit geben muss, warum muss er sie nur der Frau geben, wenn es auch noch andere Ziele gibt?

Eine Stadt hat viele Wesen, mit denen man überschüssige Illusionen abbauen kann. Man möchte es nicht glauben, aber Anmut beruht in den meisten Fällen auf visuellen Täuschungen. Er lernte, Menschen nüchtern zu betrachten.  Die Anmut der Jugend verdeckt nicht so sehr ihre Form, sondern vielmehr ihr Gefunkel von Tausenden Defekten und Fehlern.  Wenn wir der Anmut das Licht entziehen, erscheint das Gesicht abgestumpft und gedemütigt, verkümmert, unfertig, verunstaltet, erscheinen Gemeinheit, Dummheit, Fluch. Wenn wieder eine Flamme auflodert, verdeckt der Glanz der Jugend mit ihrer Helligkeit viele, viele Dinge. Früher konnte er das nicht sehen, höchstens in Anfällen von jünglinghafter Melancholie, und seither vergaß er darauf, so dass er dem nicht mehr vertraute und annahm, dass die Hässlichkeit der Menschen und Dinge nur ein kranker oder gemeiner Mensch betrachten kann; er hielt es für ein Zeichen seiner Gesundheit, dass er nur die Schönheit sieht. Dort, wo keine Schönheit war, sah er nichts. Die Welt war für ihn nicht zusammengesetzt aus Schönheit und Hässlichkeit, sondern aus Schönheit und Leere. Aber dort, wo er die Leere sah, konnte er begreiflicher Weise die Wirklichkeit nicht sehen, und diese Leere erfüllte ihn mit Unruhe und Misstrauen in die eigenen Sinne. Daher litt sein Gedächtnis. In sich selber sah er auch nur Leere und in der kannte er sich nicht aus. Er irrte umher. Jetzt versuchte er die Welt in jedem Licht zu sehen. Er blickte in jedes Gesicht, aber das Ergebnis war merkwürdig. Er konnte die Jahre und das Alter umkehren, enthüllte die längst vergangene Schönheit alter Frauen, erkannte die künftige Hässlichkeit von Mädchen. Er enthüllte die verborgene Güte degenerierter und gesellschaftlich längst ausgestossener Menschen und die lasterhaften Schwächen stolzer und sympathischer Menschen. Aber Illusionen auszurotten vermochte er nicht. Er saß im Kaffeehaus bei der Musik einer Damenkapelle und erblickte im Spiegel einen Geigenkopf, die silberfarbene Bespannung eines Bogens mit dunkel glänzenden Kanten, eine nackte Mädchenhand, die den Geigenhals hochhielt; jeder Spiegel ist magisch, verleiht den Gliedern, vor allem den nackten, den kalten und geheimnisvollen Schimmer gereinigter Schönheit; er sah im Spiegel Musik, sah Klänge, Geigen, die Leidenschaft der Musik in der sich auf und ab bewegenden Hand, die bisweilen aus dem Spiegel verschwand, dann wieder bis zur Schulter auftauchte und die Spitzenärmel und goldenen, schlangenförmigen Armbänder sehen ließ.  Die Geigerin auf dem Podium sah er nicht direkt, doch von dem Bild im Spiegel, wenn auch bruchstückhaft und flimmernd, konnte er die Augen nicht abwenden. Er betrachtete den Gang der Mädchen und Frauen und erkannte aus ihnen Freude und auch Scheu, Verlegenheit, Sorge, Stolz, Dummheit, Unerfahrenheit, Leidenschaft und Verderbtheit.

Es verdross ihn, dass er so viele Dinge sehen und beobachten muss, als ob er dazu verurteilt wäre zur Strafe für irgendeine Schuld, deren er sich nicht voll bewusst war, bis er nicht einsähe, dass er sogar einen Mord begehen könnte.

Er würde gern der Welt entsagen und sich der Einsamkeit weihen, aber er fühlte sich schuldig, als ob er wirklich irgendeinen Verrat begangen hätte, ein Liebesabenteuer und eine Verführung, als ob er irgendwelche folgenschweren Verhängnisse auf dem Gewissen hätte und als ob in ihm Dunkelheit herrschte, die bei Licht zwar in irgendein Schlupfloch zurückweicht, aber nicht verschwindet.

Vielleicht, vielleicht hoffte er doch noch, oder wünschte sich, dass die Sehnsucht andauerte, aber an den Füßen spürte er fünffache Ketten.

Alle hatten reine Herzen, alle waren still. Wenn er für irgendeine beten sollte, wüsste er nicht für welche, für alle auf einmal wagte er es nicht.

Wem ist welche schon zugefallen? Oder wird zufallen?

Eine Vorstellung bedrückte ihn am meisten. Auch wenn er eine von ihnen fände, wenn eine von ihnen allein käme als treue Liebe aus ewiger Anhänglichkeit, seine Sehnsucht wäre dadurch nicht geringer. Es schien ihm, dass er nicht eine ohne alle übrigen lieben könne. Mit allen war er verlobt und mit keiner List und keinem Opfer kann er sich freikaufen aus der ewigen Verpflichtung allen gegenüber. Sie alle müssten mit einer einzigen Seele und einem einzigen Herzen kommen. Das wäre ein zu verwickeltes und zu schönes Verhängnis.

Alle sind sterblich, schwach und arm. Vorstellungen nehmen das ganze Leben vorweg bis zu den Betrübnissen des Alters. Alle werden alt in unbekannter Demut und unbekannter Stille, die Seelen werden getrennt sein bis in den Tod, Empfindsamkeit und Heldenmut, Armut und Erinnerungen bleiben verborgen.

Jede, die sich ihm einmal im Leben in unantastbarer Anmut zeigte, hatte die Vorstellung des Todes erweckt. So oft er der Liebe begegnete, begegnete er dem Tod in seiner reinsten Erscheinung. Der Anblick eines Mädchens erweckt soviel Sehnsucht. In ihm ist alle Liebesschönheit des Todes, und wer sie erkennt, erkennt auch schon die Sehnsucht nach der ewigen Liebe. Diese offenbarte sich ihm jetzt in wunderbarer Weise gleichnishaft im Anblick der Einfachen und Armen wie Blumen am Straßenrand, in der Wirklichkeit jedoch in geheimnisvoller und wunderbarer Erhabenheit.

Auch der Tod kann plötzlich kommen wie die Liebe. Ein paar Mal begegnete sie ihm, reichte ihm die Hand, und ließ sich auch von ihm küssen, aber sie hat ihm noch nicht gesagt, dass er auf immer mit ihr ginge. Gewiss war das so, weil seine Liebe immer rein war wie der Gedanke an den Tod. Der Tod darf sich vor dem Menschen verbergen, der Mensch verbirgt sich nicht vor ihm. Und so war es auch hier. 

Es war noch der Herbst desselben Jahres, oder vielmehr der Beginn des Winters. Weihnachten nahte. Das Jahr war voll Hunger und Freudlosigkeit, ihm ging es allerdings etwas besser. Wenn es manchmal spät wurde im Kaffeehaus und er nach Hause ging, begegnete er auf bestimmten Gehsteigen frierenden Frauen, die auf Männer warteten, die aus dem Wirtshaus und von Unterhaltungen kamen. Diese Frauen hofften, dass von den üppigen Vergnügungen dieser Männer auch für sie noch etwas Bares abfiel. Manchmal hörte er ihre Klagen und gab ihnen ein Almosen, wobei er zwar Berührungen mit ihnen vermied, es aber nicht über sich brachte, sie zu verachten. Einerseits verflüchtigte sich die Schönheit vor ihm wie ein Trugbild, andrerseits kam sie abgeschlagen, gedemütigt und bettelnd wieder zurück. Er stand dazwischen. Daher gab er diesen Armen gern eine Kleinigkeit, sich darauf verlassend, dass ihm das zum Verdienst werde, das immerhin belohnt werden kann.

Aber auch von diesen Wesen ging manchmal ein besonderer Zauber aus. Manchmal klang eine Stimme seltsam silbern, ein andermal staunte er über den Mut der Armut und die Beharrlichkeit des Wartens. Aber nach sterben war ihnen nicht zumute und es schien, dass mit dem Alter die Hoffnung nur noch stärker wird. 

Eines Abends wurde es im Kaffeehaus wieder einmal später, weil er verschiedene Blätter las. Als er wegging, begannen Leute aus dem Theater zu kommen. Mit der Tramway fahren wollte er nicht, er hatte keine Eile, hatte niemanden, den er erreichen wollte. Er ging langsam zu Fuß auf den Stadtplatz und weiter hinauf. Verschiedene gesellige Gruppen gingen in Weinlokale, die Würstelverkäufer begannen schon mit ihrem Geschäft, die letzten von jenen, die vom Theater auf dem Heimweg waren, beschleunigten ihre Schritte und langsam gingen nur noch die, denen es auf einige Stunden nicht ankam oder die sich nicht entscheiden konnten, in welches Vergnügungslokal sie noch gehen sollten. - Die Luft war feucht und kühl wie bei beginnendem Tauwetter; der Himmel völlig dunkel; die Dächer der Gebäude waren kaum zu sehen. Verwaiste Linden standen reglos zwischen den Pfählen der elektrischen Straßenlampen. Auf den Gehsteigen promenierten Damen der Gesellschaft und auch umherirrende alleinstehende Frauen; dann verschwanden die, welche teure Mäntel und Pelze trugen, und die, welche gewöhnliche Mäntel trugen, irrten weiter, auf kurzen festgelegten Bahnen ein paar Meter hin und her gehend wie Arbeitspferde am Laufband. Sie waren älter oder auch jünger, verwelkt oder auch anmutiger, fast kindlich, obwohl sie bei einiger Nähe groteske Überraschungen hervorriefen.

Zerstreut von der bunten Vielfalt seiner abendlichen Zeitungslektüre ging er, auf nichts achtend, mit den Händen in den Taschen, dahin. Ungefähr in der Mitte des Platzes erblickte er ein Mädchen, das langsam hinaufging. Da sie es nicht eilig hatte, schien es, als ob sie auch eine aus dem Schwarm frierender Frauen wäre. Sie hatte einen festen Schritt und straffe Schultern, vielleicht war sie jünger, frischer. Das konnte auch ein Mädchen sein, das vom Theater zurückkehrte und es gerade nicht eilig hatte. Dennoch sah sie sich zweimal um. Da er schnell ging, war er bald hinter ihr; da drehte sie sich um und sah ihn an. Der Hut mit der tiefgezogenen Krempe warf einen tiefen Schatten auf ihr Gesicht und nur wenn sie ihr Gesicht hob, zeigten sich dessen elfenbeinerner Schimmer und das tiefe Strahlen ihrer Augen. Ihre Gestalt hatte eine besondere Zartheit und fast schien es, dass sie sich auf den Zehenspitzen zu ihm aufrichtete. Ihre Lippen waren erblüht, und die feinen Gesichtszüge schienen durch die Kälte ein wenig ernster zu wirken. Aber in den Augen leuchtete weit und tief so viel verhaltenes Locken und Lächeln, dass es an einem anderen Ort als ein Auflodern betrachtet werden könnte.

Die verhaltene Verlockung zur Annäherung und zum Anschaun weckte in ihm die Überzeugung, dass sie eine der schönsten oder die schönste der Ausgestoßenen ist. Aber es war noch etwas anderes, es war mehr. Wie wenn ein Pferd in der Nacht auf Quarzgestein stampft und Funken aufsprühen. Vielleicht zeigte sich eine Vorbedeutung. Das wäre seltsam, und vielleicht schafft er sich ja doch nur seinen eigenen Aberglauben. Doch auch wenn sie ein Irrlicht wäre, soll er sie sich erwählen oder soll er nicht?  Er schaute sie noch einmal an.

Sie war schön. Genügte das? Aber sie wartete, wartete, und, wie es schien, mitnichten auf Geld. Es brannte in ihr etwas und er sollte – –

Er stutzte und sie standen einander auf einen Schritt gegenüber, sahen sich direkt in die Augen; sie konnten sich einander nicht mehr entziehen, jeder hatte schon ein Recht auf den anderen, als ob sie miteinander seit langem verlobt wären, und noch mehr als das. Das, was sie verband, war erstaunlich, aber unbekannt.

Wie im Fieber umfasste er sie mit beiden Armen, hier auf dem Gehsteig, drückte ihren Kopf an seine Brust und hob ihre Augen zu sich. Sie wehrte sich nicht – sie wartete. In dieser Fügsamkeit war eine schreckliche Folter der Ungewissheit. Was jetzt?

Er küsste sie mit ratloser Innigkeit auf beide Augen, die sie mit solch unfassbarem Leuchten zu ihm aufhob, und auf die Lippen, die nicht redeten, weil sie verstummten aus inniger Liebe und auch aus Angst vor dem, worum sie bitten sollten. Und was jetzt? Es war nicht möglich, auf dem Gehsteig zu bleiben mit dem Mädchen in den Armen; da gingen ja noch Leute. Die Nacht war schwer, die Kälte zehrte. Schon hatte er sie eigentlich zur Anschauung der Liebe verführt, und jetzt muss er sie verlassen. Er sah etwas, oder suchte etwas. Das Mädchen zitterte stumm, verschwand in der Stummheit, aber jemand Mächtiger und Unsichtbarer schützte sie. Jemand gab sie ihm in die Arme, bat für sie, stöhnte für sie und befahl sie ihm. Er fühlte, dass sie nicht kam, sondern dass sie zu ihm geführt wurde. Etwas wurde von ihm verlangt, aber es war nicht sie, die bettelte. Was tun?

Heimlich und schnell zog er einen Hunderter heraus, steckte ihn dem Mädchen in den Mantel, drückte ihr die Hand und sagte:

„Da hast du, Mädchen, geh nach Hause und wärm dich auf!“

Rasch ging er weg in der Annahme, dass er mit dem Almosen Genüge getan hat und kümmerte sich nicht um das überraschte Mädchen. Erst oben an der Ecke blickte er zurück und sah, wie sie zur Tramwaystation hinüberging und ihr bleiches Gesicht zu ihm umwandte. Die Tramway kam gerade an, das Mädchen stieg ein. Er ging weiter, aber da fuhr ihm die Tramway in den Weg. Er musste warten, bis sie vorbeifuhr. Er erblickte das Mädchen im Fenster des Waggons. Sie war in Gedanken versunken, sah nicht hinaus. Er hatte Zeit, um in den fahrenden Wagen zu springen, oder um ihn bei der nächsten Station, die ganz nahe war, einzuholen. Etwas trieb ihn an. Aber er stand wie angewurzelt. Er sah der Tramway nach. Die Tramway setzte sich wieder in Bewegung. Etwas schien ihm unklar, fragwürdig, verworren. Da erst fiel ihm ein, dass er sich aufraffen und zu ihr hineinspringen hätte sollen, aber es war schon zu spät, die Tramway fuhr bereits schnell und seine Füße waren noch gelähmt.

Vielleicht hätte er ein Auto gemietet, wenn eines in der Nähe gewesen wäre, und wäre der Tramway nachgejagt. Aber da war nichts.

Plötzlich schien ihm, dass ihn etwas eiskalt umklammerte, bösartig und tödlich. Das war keine Kälte, die von draußen kam. Es war eine plötzliche Frostattacke in der Seele, bei der sich ihm das Herz zusammenkrampfte. Lange konnte er sich nicht erinnern, wo, wann und worin er die Sünde beging. Wie er zuvor wegeilte, um weit von ihr weg zu sein! In weniger als einer Minute war diese ganze Liebe zu Ende. Einstmals konnte er sich zumindest ausreden, dass er am nächsten Tag im Geschäft, im Amt sein musste, dass die Bahn zur festgesetzten Zeit abfuhr, oder dass er sich in der Dunkelheit seines Umherirrens von Erinnerungen überwältigen ließ. Aber jetzt, jetzt musste er nur schnellstens aus dieser blanken Dummheit herauskommen. Er hatte sich nicht einmal umgesehen, wie es sich gehört hätte, es war ihm nicht einmal etwas an dem gelegen, was sie vielleicht gesagt hätte! Wenn ihm wenigstens ein Eindruck von diesem schusseligen Kuss verblieben wäre, aber jetzt weiß er überhaupt nichts mehr – wirklich nichts! Oder er hätte wenigstens konsequent sein müssen und nicht mehr zurückblicken dürfen, nicht einmal wenn Sodoma gebrannt hätte. Aber jetzt war alles vertan, alles vergeudet. Nicht Geld, doch wer weiß, wozu das eigentlich führte, jedenfalls zum eigenen Schicksal. Wenn es doch nur das eigene wäre!

Hm, sagte er sich, das konnte immer und überall geschehen und warum sollte diese Begegnung mit meinen Geheimnissen zusammenhängen?

Aber der gierige Dämon der Angst verdunkelte und lähmte seinen Verstand und ließ sich keineswegs austreiben. Halluzinationen überfielen ihn und es packte ihn eine Wut gegen sich selbst. Er erinnerte sich an das Märchen von dem Mann, der Gott erzürnte und sein verlorenes Vermögen nicht mehr erlangen konnte, nicht einmal dann, wenn es ihm gute Menschen in das Brot eingebacken oder auf den Weg gelegt hätten.

Welche Sünde war es und wann hat er sie begangen? Vielleicht die, dass er einst einem gewissen Mädchen, das auf dem Friedhof weinte, sein Geld anbot? Mit Geld hatte es einst begonnen und mit Geld ging es nun zu Ende. Vielleicht war das dumm, sehr dumm, aber unehrlich war es vielleicht nicht?

Er versuchte das Monster mit bloßer Vernunft zu vertreiben; doch das würde sich zwar beschwatzen, aber nicht umstimmen lassen. Als er über die Stiege zu seiner Wohnung hinaufstieg, fühlte er sich plötzlich allein, verlassen. Er spürte eine jähe Angst vor dem Alleinsein, obwohl er nie Angst hatte. Jemand oder etwas hat ihn verlassen, das immer mit ihm ging, obwohl er es nicht wusste.

Als er die dunkle Wohnung betrat und ehe es ihm gelang, Licht zu machen, erinnerte er sich an etwas. Daran, wie er in dem Augenblick, als er die unbekannte und im Stich gelassene Geliebte küsste und als er im Begriff war sie wegzuschicken, das Gefühl hatte, dass irgendein Unsichtbarer sie ihm in die Arme gab, für sie bat, für sie stöhnte und sie ihm befahl. Wie sie stumm war wie ein zugeführtes Opfer. Wie jemand für sie bettelte. Und wie er, als ob Betteln ihr Handwerk gewesen wäre und obgleich er wusste, dass dieser Bettler unsichtbar ist, den dummen, gemeinen Hunderter herauszog, um ihren Beschützer für den Kuss zu bezahlen.

Da schrie in ihm die ganze männliche Angst auf, und er zündete das Licht nicht mehr an, denn es war offensichtlich, dass es in dieser vergifteten Einsamkeit überhaupt keinen Schutz geboten hätte. Er sollte in die Kälte gehen und dort umkommen, wo er sein erbärmliches Almosen verbrochen hatte.

Jetzt wusste er, dass er Gott von seiner Schwelle gejagt hatte. Er wollte den Gast nicht unter seinem Dach, nicht einmal unter dem Dach seines Herzens. Um sich der Pflicht der Gastfreundschaft zu entziehen, zog er den Hunderter heraus und verwies den Gast in eine beliebige Gaststätte.

Er begriff keinen Zusammenhang mit seiner ganzen Vergangenheit und mit der Vergangenheit, die den Menschen durch das Leben führt. Und er wollte nicht mehr mit dem Verstand nach ihr suchen, denn der Verstand ist ein Verräter. In ihm tobte ein Sturm. Er fühlte, dass er voll Sünde ist, voll böser und tödlicher Sünde. Er fühlte Angst vor der Hilflosigkeit, weil sein Beschützer ihn verlassen hat. Im Kopf hatte er eine Stumpfheit wie vor einem einschlagenden dreigeteilten Blitz.

Wie nur jemanden finden, der diese Sünde verstände und Vergebung gewähren könnte!

 

Zu den fünf abgeschlagenen Köpfen kam heute ein sechster fast in einem einzigen Augenblick hinzu. Und zur Rettung wäre jetzt ein so starker Glaube nötig, dass er ihn auch auf den Wellen des Meeres aufrechterhalten könnte.  

 


 

 

Kapitel VII

 

Im Zimmer war es schon warm, sie legte aber noch eine volle Schaufel Kohle nach, damit die Wärme länger anhält. Sie zog die Jacke aus, räumte sie aber nicht weg; abgespannt setzte sie sich in das alte Fauteuil, lehnte sich zurück und drückte die Jacke an sich. Der Wecker tickte auf dem Schrank, auf einem kleinen Tisch glänzten ein Fingerhut und Nadeln auf einem kleinen Kissen. Die übrigen Dinge gehörten nicht ihr. Ihre Sachen waren entweder zugedeckt oder im Schrank eingesperrt und fremde Sachen hatten wenig Bedeutung. Nur auf dem Stuhl saß man gut und die Lampe mit dem breiten Schirm war ihre Freundin. Der Spiegel schon weniger, in ihm wirkte ihre Gestalt fremd. Ihr Eigen waren auch die Kohlen im Ofen, die in der Dunkelheit des Abends schön glühten, aber bald niederbrannten. Der Anstrich der Wände war unheimlich, und die Spinne war unheimlich, nur sie selbst war sich ganz zu eigen.

Aber heute berührte sie das nicht, heute hatte sie ja einen schönen Traum, der ihr vielleicht in Erfüllung geht, heute wird der Ofen anders wärmen, das Licht der Lampe sich weiter ausbreiten und über mehr ergießen, heute werden Tisch und Stuhl und Schrank sich ihr fügen wie lebende Wesen. Wie und warum, das wusste sie nicht. Sie wusste auch nicht, was sie in der Nacht geträumt hatte, woher ihre Glückseligkeit kam, an nichts erinnerte sie sich, sie wusste nur, dass sie glücklich ist, sei es für kurze Zeit oder für lange.

Sie hielt die Jacke auf ihrem Schoß und kuschelte sich in einer unbestimmten Erwartung hinein. Sie blickte um sich. Es schien, dass schon alles vorbereitet ist, dass das alte Fournier all seinen früheren Glanz zusammengefasst hat, dass die nachgedunkelten Möbel und die Zimmerdecke mit Wärme gesättigt und wie die Kulissen einer Bühne verteilt sind, dass alles an seinem Platz ist, und dass nur noch das Spiel beginnen musste. Ein leichtes Lampenfieber überkam sie und gern hätte sie noch schnell ihre Rolle wiederholt. Aber sie wusste weder, welches Spiel es sein würde, noch welche Rolle ihr zugedacht ist. Sie öffnete den Schrank und betrachtete ihre Wäsche und ihre abgetragenen Sommerkleider. Einige Stücke waren schon alt und fadenscheinig. Sie hielt sie in der Hand wie Kleider einer schlummernden Freude, die sie noch nicht aufwecken durfte; erst ein bisschen später! Sie erinnerte sich, wann sie welche gekauft oder genäht hatte; welche ihr am meisten gefallen haben, mit welchen sie am zufriedensten war. Einige waren nichts mehr wert, aber sie glättete sie trotzdem wieder und besann sich eine Weile auf Vergangenes. Sie legte die Hand auf ihre Hemden, auf die groben, ausgebesserten und verfärbten, versehen mit roten Borten, einfachen Ringlein oder billigen Spitzenbändern, sie betrachtete die feineren und auch die völlig neuen, in denen rosafarbene Seidenbändchen durchgezogen waren, duftig wie Flaumfedern; sie sah ihre Schürzen und Polsterbezüge an, die sie mit Liebe und Fleiß genäht und gestickt hatte. Das waren keine reichen Besitztümer, es war nur schlummerndes Glück, bettelarm und leicht, das in einem Ränzlein Platz hätte.

Sie schloss ihren Korb auf, zog ihn an ihren Stuhl heran und setzte sich. Es herrschte das Zwielicht eines Winternachmittags, das Abendrot leuchtete auf den nackten Mauern der herausragenden Häuser, das Licht war schwach und doch ausreichend. Im Korb hatte sie eine Schachtel mit Fotografien. Darunter waren einige von ihr. Auf manchen war sie als kleines Mädchen mit ihrer Mutter zu sehen, andere Fotos zeigten, wie sie in späteren Zeiten aussah. Sie erinnerte sich. Eine dieser Photographien hatte eine besondere Wirkung auf sie; sie trug damals ein einfaches Kattunkleid. Das war vor fast zwei Jahren. Jetzt war Jänner, morgen ist das Fest der Heiligen Drei Könige, da soll Blei auf glühende Kohlen gegossen werden. In dieser Festzeit stand auf dem Land in Schränken und Wandregalen die Weihnachtskrippe und vor ihr brannten kleine Lichter. Aber sie erinnerte sich an das Kleid. Es war aus Kattun, sie sollte es sich waschen. Am Dreikönigsfest sangen sie Weihnachtslieder; sie erinnerte sich an ihre Melodien, aber in ihnen begann ihr eine besondere Begleitung nachzuklingen. Das war, wie wenn sich irgendwo irgendein Mädchen auf einem Waschbrett ein Kleid wusch und dabei mit den Knöcheln über die Rillen des Waschbretts strich, als fiedelte sie irgendein seltsames und glückliches Lied, während das festliche, sonore und irgendwie weihnachtliche Rumpeln des Waschbretts begleitet wurde vom Rauschen und Knistern des Seifenschaums und des lauwarmen Wassers, von den Seufzern des müden Mädchens und vom Gesang eines alten Liedes. Dann schien ihr, dass sie irgendwo im Haus, vielleicht über ihr, Schritte hört, und sie horcht, aber das Waschbrett will klingen, rauschen, die Finger wollen spielen, das Lied will nicht verstummen, das Wasser kühlt ab und tropft. Dann bügelte sie und hörte die Stille wie einen Schmetterling und wie das weit entfernte, leise Klingen eines sonnigen Tages. Sie träumte vor sich hin und sah die Photographien nicht mehr an. Dann zeigte sich in ihrem Gesicht ein Zug der Bitterkeit, der sich aber langsam auflöste. Sie stand auf, blickte um sich und betrachtete sich im Spiegel. Sie schloss den Korb und kehrte zum Schrank zurück. Sie legte die Hand auf das alte Kattunkleid und blieb lange stehen. Endlich zog sie die Hand zurück, zog das warme Wollkleid aus, und nach einem heimlichen Zögern zog sie das blaue Kattunkleid an. Sie ging zum Spiegel. Es stand ihr noch gut; sie war in ihm kindlicher und unbefangener. Vielleicht war es schon ein wenig zu kurz, oder es schien ihr nur so, aber wer wird denn das bemerken! Sie wärmte sich beim Ofen auf. Es war ihr seltsam zumute. Irgendwo weit weg und doch nahe herrschte Frost und wehte ein nasskalter Wind. Es war ihr warm, aber sie wusste, dass sie in die Kälte hinausgehen und sich die Wärme mitnehmen musste. Sie wärmte sich ihre Hände hinter ihrem Rücken am Ofen und betrachtete ihr Kleid; noch überlegte sie, dann warf sie den Kopf wie im Trotz zurück, ergriff den Mantel, knöpfte ihn bis zum Kinn zu, schlug den Kragen hoch, nahm den Hut und die Handtasche und ging hinaus. Aus der Tür blickte sie noch einmal in ihr Zimmer zurück. Dann geht sie. Womit wird sie zurückkommen? Sie bekreuzigte sich und ging.

Draußen herrschte Frost, auf den Bäumen lag Raureif, der Wind hatte sich gelegt. Niemand bettelte. Die Straßenbahnwagen rumpelten im Frost, die Luft war schneidend. Noch war nirgends Licht, außer in einigen Geschäften. Sie wollte sich nicht in die Elektrische setzen, denn sie wartete auf einen glücklichen Gedanken. Sie blickte nicht zu den Häusern, nur auf die Menschen, aber so, als ob sie alle kannte und den Weg zwischen ihnen suchte.  Sie überquerte Kreuzungen, sah große Plakate, las sie aber nicht, sie blickte auf kleine Kinder und auf Pferde. Sie ging in eine bestimmte Richtung, wusste aber nicht einmal recht, wohin sie geht. Die Leute gingen in andere Richtungen. Endlich gelangte sie in die Hauptstraße und große, blendend helle Schaufenster zogen da und dort ihren Blick und ihren Schritt an. Sie suchte etwas. Sie ging ziemlich weit, wollte schon umkehren und sich etwas überlegen, als sich nahe vor ihr eine Tür öffnete und aus dem Geschäft der betörende Duft von Blumen in die frostige Luft wehte. Sie trat zum Schaufenster und betrachtete die ausgestellten Blumen, die in Gewächshäusern gezüchtet worden waren. Da gab es prächtig aufgeblühte Rosen, umgeben von Knospen von verführerischer Schönheit, rosa, weiß und bunt.  Gepflegte Büschchen von weißem Heidekraut und die ersten Tulpen und Veilchen träumten in Blumentöpfen zwischen dem Frost auf der Straße und der lauen Kühle im Laden. Orchideen schmachteten aus hohen schmalen Vasen, leuchtende Nelken füllten mit ihrer berauschenden Vielfalt breite Gefäße, Farne, Klee, Mimosen, Flieder, Hortensien und Kamelien zitterten in kühler anspruchsloser Schönheit im seelenlosen und harten Licht der elektrischen Lampen. Um all diese Dinge war ihr leid und nach allen sehnte sie sich. Weiße und rosa Nelken lockten mit ihrem Duft und mit süßer, hingebungsvoller Scheu. Rosen lockten mit ihrer unerreichbaren Pracht, Veilchen mit ihrer paradiesischen Schwermut, Mimosen mit katzenhaftem Funkeln und der Flieder mit seiner Verträumtheit; jede Blume erzählte etwas über das Glück irgendeiner Prinzessin und jede von einer anderen. Die Blumen spiegelten sich im Glas. Sie bemerkte, dass sich auch ihr Gesicht spiegelt, aber sie suchte nicht sich selbst, sie ist nicht gekommen, um sich selbst anzusehen. Sie erinnerte sich an ihr Zimmer. In ein solches Zimmerchen musste man ein bisschen Blumenschönheit bringen, und zwar auf eine solche Weise, dass dort die Blumen nicht allzu viel Heimweh hatten, dass sich aber auch das Zimmer vor ihnen nicht zu sehr genieren musste. Sie wusste nicht, was sie wählen sollte, aber sie ging hinein. Sie wusste nicht, was sie sagen wird, aber als der Verkäufer herbeikam, sah sie an der Wand Blumen, die sie urplötzlich so fesselten, dass sie an andere gar nicht mehr dachte.

Es waren Gänseblümchen. Sie waren voll aufgeblüht, gepflegt und lächelten, so dass ihre reine, unschuldige und herzerwärmende Weiße geheimnisvoll strahlte in rosafarbenem, gelbem, grünem und veilchenblauem Glanz. Sie wollte nichts anderes mehr als einen Strauß Gänseblümchen, und um sie herum ließ sie nur einen Saum aus zierlichen grünen Blättern arrangieren. Sie konnte es kaum erwarten, bis sie den verlangten Strauß in der Hand halten wird, bis sie mit ihm wird reden können und weiß, dass er jetzt ihr gehört, bis sie ihn auf die Straße hinaus tragen wird, obwohl es dort kalt ist; aber Gänseblümchen fürchten die Kälte nicht und lachen eher über sie in ihrer ausgelassenen Unschuld wie barfüßige Kinder, die in den Schnee hinauslaufen. Sie zahlte und eilte hinaus, sah den Strauß an, blickte in die Blüten hinein, wich in Gedanken versunken den Fußgängern aus, sie hatte ihre Gänseblümchen, etwas anderes brauchte sie nicht. So kam sie zur Ecke, wo der Gehsteig in den Stadtplatz einbiegt. Wohin jetzt?

Darauf hatte sie schon vergessen. Sie hob ängstlich die Augen und blickte um sich, als ob sie sich verirrt hätte, als ob sie nicht wüsste, wo sie ist, als ob sie aus unermesslicher Ferne in eine fremde Stadt gebracht worden wäre, wo die Menschen fremde Sprachen sprechen und niemand da ist, den man fragen könnte. Sie blickte so lange herum, wandte sich um und sah die Menschen an, bis einige Leute auf sie aufmerksam wurden und trotz der Kälte den Schritt verhielten, um begehrliche Blicke auf das junge Mädchen zu richten, das Gänseblümchen in den Armen wiegt.

Sie hielt Ausschau, aber niemand kam. Sie sah wehmütig und betroffen auf ihre Gänseblümchen wie in das Gesicht eines verwaisten Kindes, mit dem sie aus einem überschwemmten fremden Haus entfloh.

„Meine Gänseblümchen, soll ich euch wegwerfen?“ flüsterte sie ihnen zu. „Niemand will uns!“

Sie hoffte, dass jemand kommt und sie begehren wird; dass sie geht und den Blumen zu trinken gibt im warmen Zimmer, dass alles gut und glücklich sein wird. Sie hatte ein solches Vertrauen, dass ihre Augen glänzten, die Wangen brannten unter dem eisigen Weiß des Winters, dass ihr Schritt war wie ein Wiegenlied, das stolz und andächtig gesungen wird. Aber niemand kam. Da gingen an die tausend Menschen, Männer und auch Frauen und Kinder, sie begegnete tausend Augen, aber die Suche war vergebens. Sie bog auf den Stadtplatz ein und ging.

Hie und da fiel eine Schneeflocke auf ihren Mantel und auch auf ihre Locken, ja sogar auf die Gänseblümchen, die zitterten wie ein lebendiger Leib. Sie erinnerte sich; das war rührend und schön, was ihr aus dem Herzen in die Augen stieg.

Sie musste auf die Suche gehen. Niemand ist ihr begegnet und niemand wird ihr begegnen. Sie konnte sich denken, dass sie vergeblich geht, aber heute war keine Zeit für solche Vorstellungen. Sie musste gehen, weil etwas sie antrieb, führte und rief. Als sich die Hoffnung verbarg, erhob sich die Sehnsucht.

Sie blickte auf den Gehsteig, wie die Schneeflocken mehr wurden. Viele erloschen wie unnütze Blümchen. Ihre Schuhe gingen leise durch den verlöschenden Schnee.

Sie sah ihr Leben aufstrahlen aus dem Dunkel der Nacht; sie war arm, es gab in ihm viel Elend, Warten, Tränen, Lieder und Lächeln. Es gab in ihm viele Blumen, auch solche wie die runden Blütenaugen der Gänseblümchen, und so viele von ihnen sind ihr auf den Weg gefallen. Sie ging stets auf Blumen, wie auch immer ihre Tage und Nächte waren. Ihre eigene Jugend streute ihr Blumen, und ihr Weinen streute ihr Blumen unter die Füße, und die Arbeit, ganz gleich welche, war immerhin ein Maienlied, wenngleich in der Einsamkeit. Sie wollte nicht auf die Blumen treten, aber sie fielen ihr selbst unter die Füße.

Sie erinnerte sich mit einem Lächeln an ihre Armut und war dankbar; sie wusste jetzt nicht, wem sie ihre Dankbarkeit zeigen würde, sie hatte ja niemanden, nur einen Strauß Gänseblümchen. Sie drückte sie an ihr Herz; sie blickte heimlich auf sie, damit die Leute sie nicht beobachteten; sie wollte nicht, dass andere ihre Liebe sahen. Sie trug die Gänseblümchen, halb sie versteckend, halb mit ihnen prahlend.

Sie erinnerte sich und lächelte, sie hatte etwas zu lächeln. Sie hatte noch andere Gänseblümchen als jene, die sie im Blumengeschäft gekauft hatte. Das waren ihre Schwestern, ihre Schönen, die Schwestern ihres Herzens, ihrer Liebe und ihres Glücks. Gänseblümchen, die blühten und denen die Kälte, Armut, Traurigkeit nichts anhaben konnten; sie blühten das ganze Jahr, blühten unter dem Schnee, blühten nach einem Jahr wieder und ihre Blüten waren noch anmutiger, kostbarer. Gänseblümchen in meinen Armen, wie seid ihr bettelarm! 

Sie kam an die Ecke irgendeiner Straße; bisher ging sie behend und stolz. Dort erschrak sie über irgendetwas. Vielleicht darüber, dass das eine Seitenstraße war, dass sie nicht so beleuchtet war, sie war dunkler, abgestorbener. Als ob sie jemand hierher geführt hätte! Aber niemand bot sich an, und wenn sich jemand anböte, würde sie vor ihm fliehen. Bis hierher hatte die Hoffnung sie gejagt. Jetzt hat die Hoffnung sie verlassen, ganz und gar verlassen. Sie musste weitergehen, sie wusste, bis wohin, jedoch ohne Hoffnung. Vielleicht würde sie vergeblich gehen. Tausend Ausreden kamen ihr in den Sinn. Sie blickte ratlos auf ihren Blumenstrauß wie auf ein hungriges und erstarrtes Baby. Aber das Sträußlein strahlte mit einem holdselig schlafenden Vertrauen. Dem Schutzengel anbefohlen. Die Sehnsucht führt nicht an der Hand, sie hält den Menschen an der Kehle, ob Mann, ob Mädchen, wie ein Polizist, wie das Schicksal. Wenn sie sich umdrehte und losrisse – nein, das konnte sie nicht zulassen!

Sie ging; sie drückte den Strauß Gänseblümchen an die Brust, als wollte sie sie aufwärmen, obwohl sie sah, dass auf ihrem Mantel Schnee haftet, obwohl ihr selbst bisweilen kalt war.  Sie blieb vor dem Eingang stehen. Drei oder vier Mal las sie die Aufschrift auf der Glastafel; sie hätte sich gern überzeugen lassen, dass das ein anderer Name war, dass sie sich irrte. Aber die Wahrheit ließ sich nicht ins Gegenteil verkehren. Aus dem Haus kam jemand heraus. Sie musste ins Haus hineinschlüpfen, über die Stiege gehen. Möge es enden, wie es will. Sie lief flink und sicher über die Stiege, fast sprang sie. Sie drückte den Knopf der elektrischen Klingel und lehnte sich an den Rand des Türpfostens, weil sie atemlos war und ihr Herz stärker schlug, als sie ertragen konnte. Aber früher als sie wünschte, waren leise schlurfende Schritte zu hören und jemand öffnete die Tür. Es war eine alte Frau, die sie fragte, was sie wünsche.

Durch ihre Zähne und Lippen hauchte sie eine schüchterne Frage.   Die alte Frau lud sie ein, weiter zu kommen.

Aber als sie ihre Milde sah, kam wieder Feuer und Zuversicht in sie. Mit einem bescheidenen und flehenden Blick bat sie höflich, aber mit einer Stimme, die zu Herzen ging und der alten Frau ihre Reinheit und Wehmut zeigte, den Blumenstrauß zu übergeben.

„Und was soll ich ausrichten?“ fragte die Frau.

„Dass das die Heiligen Drei Könige senden.“

„Danke,“ sagte die alte Frau, und plötzlich war zu hören, dass sich von einem Zimmer die Tür ins Vorzimmer öffnete und dass jemand zuhörte.

Wie von Flammen gejagt lief sie die Stiege hinunter. Sie hörte, wie hinter der alten Frau die Tür ins Schloss fiel. Erst vom Gang des ersten Stockes aus blickte sie nach oben, als ob sie sich merken wollte, wie es in diesem Haus und vor diesen Türen aussieht. Dann lief sie in die Durchfahrt. Dort war sie schon sicherer. Es hatte den Anschein, dass sich die Tür im zweiten Stock wieder öffnete und jemand herausschaute. Sie lief auf den Gehsteig und beeilte sich, denn es war ihr warm und ihr Herz war frisch und munter, so dass der kalte Jänner in der Straße zum Mai wurde. Sie ging zurück zur Ecke des Gehsteigs in den Strom der Menschen. Sie wusste nicht, ob sie rechts oder links gehen soll. Aber sie wird nicht hier stehen bleiben und warten.

Sie entschied sich für eine Richtung und blickte nach einigen Schritten zurück. Sie sah einen Mann, der rannte, als wollte er einen Dieb einholen. Er blickte sich um, dann eilte er in die entgegengesetzte Richtung.

Sie blieb vor dem nächstbesten Schaufenster stehen und schaute sich die Waren an, die ihr offensichtlich höchst gleichgültig waren, denn es war ein Büchsenmacher­geschäft. Als sie es satt hatte, hier zu stehen, warf sie einen Blick in die Straße und machte einige Schritte. Von oben her eilte ein Mann, der sich mit aufgescheuchter und ängstlicher Hast nach allen Mädchen umsah. Sie wollte nicht zu ihm hinsehen, aber es interessierte sie gegen ihren Willen. Er bemerkte sie, sah zu ihr hin, in aller Eile, mit verborgener Erregung. Er sah sich um, auch sie sah sich aus den Augenwinkeln um. Er war sich unsicher, machte noch einige Schritte, holte sie ein, dann, als fühlte er ihren Blick auf sich, wandte er sich um. Sie tat, als ginge sie ihres Weges, aber sie zitterte vor Angst, dass sie etwas Gefährliches begehen könnte, sah nur insgeheim mit zusammengekniffenen Augen zu ihm. Seine Augen schauten mit einer erregten und fast zornigen Ratlosigkeit. Er wäre an ihr vorbeigegangen, oder hätte sie vielleicht noch mehrere Male überholt und beobachtet, wenn ihr nicht plötzlich in diesem Augenblick im Kopf und im Herzen ein Licht aufgegangen wäre. Und da legte sie schnell die Hand auf die Lippen und versteckte sich vor seinem Blick, errötend, während sich ihre Augen mit Tränen der Freude und Angst füllten und die Seele bebte vor der Entwirrung des Schicksals. Sie konnte sich nicht mehr verbergen. Er sah zu ihr hin, verblüfft, unsicher, mit verhaltener Strenge, und ging so auf sie zu, als ob er sie verhaften wollte.  Sie erschrak beinahe. Ergeben senkte sie den Kopf.

Es war ihr nicht anzusehen, dass sie die Blumen gebracht hatte. Sie gehörte sich selbst, sie war noch nicht sein, ob sie schön war und ihm gefiel, das war eine andere Sache. Jetzt aber gab es nichts, was ihm gefallen musste, jetzt musste er jene suchen, die die Blumen brachte. Hatte er sie neben sich? Oder war es eine andere? Er konnte keine Zeit verlieren. Wenn sie eine andere war – und wenn sie noch so schön gewesen wäre und wenn irgendein Geist sie ihm in den Weg geschickt hätte - es durfte ihm jetzt nichts bedeuten. Vielleicht begeht er eine Dummheit, wenn er eine Frage stellt, auf die eine Antwort ohne Ausflucht kommen muss, aber etwas anderes blieb ihm nicht übrig, denn wer weiß, wohin die unbekannte Geliebte verschwände, wenn er jetzt noch einen Augenblick im Ungewissen bliebe.  

„Sind die Blumen von Ihnen?“ fragte er bestimmt.

„Welche?“ antwortete sie auf die Frage, weil sie als Mädchen in diesem Augenblick gar nichts anderes tun konnte.

„Sie wissen es nicht? Ich weiß es auch nicht,“ sagte er, während er sich in der Straße umsah, als suchte er in der Ferne jemanden, der ihm sicherer Bescheid gäbe.

„Ich habe vor einer Weile Blumen gebracht und einer alten Dame übergeben. War das für Sie?“

„Angeblich. Vielleicht. Ich weiß es nicht sicher, ich wäre nur froh, wenn ich es erfahren würde. Aber wer hat sie mir gesandt?“

„Die Heiligen Drei Könige. Morgen ist ihr Fest.“

„Verzeihen Sie, aber ich habe morgen kein Fest. Ich bin nicht Kaspar.“

Sie erschrak, verscheuchte aber die Angst mit einem Lächeln.

„Verzeihen Sie, aber Sie sind in Eile und ich auch.“

„Wohin?“

„Wohin Sie?“

Er sah sie fest an, ob ihr anzusehen war, was sie wollte, und nahm ihre Hand.

„Dorthin, wohin Sie gehen!“

„Aber ich gehe nach Hause,“ wehrte sie sich.

„Dann kommen Sie,“ sagte er und nahm sie am Arm.

Sie gingen auf Gehsteigen, überquerten Schienen, sahen den Schnee und redeten nicht. Von Zeit zu Zeit blickte er auf das regenbogenfarbige Funkeln des Schnees in den glänzenden goldenen Haaren, die sich an das Gesicht des Mädchens schmiegten. Sie achteten weder auf die Straße noch auf die Richtung. Sie gingen in den Park. Die Bäume schmückten sich mit Schnee und in dem leichten Pulverschnee dämpften sich die Schritte auf dem Fußweg wie ein Flüstern. Sie waren allein, nur der matte Glanz des Schnees leuchtete im Dunkel, gastfreundlich und liebevoll. Sie waren allein, Hand in Hand. Die Bänke waren mit Schnee bestäubt, weiß wie aufgeschlagene Betten, auf denen man vor dem Tod durch Erfrieren süß einschläft. Er führte sie. Sie wandte ihm das Gesicht zu. Er sah sie mit Zärtlichkeit, aber auch mit Selbstbeherrschung an. Warum küsste er sie nicht in dieser dunklen, verschneiten, abgelegenen und lockenden Einsamkeit? Entweder er begriff es nicht oder er machte sich keine Sorgen mehr. Oder vertraute er so stark? Ihr oder wem? Und wenn er vertraute, warum sprach er es denn nicht aus? Sie wunderte sich. Entweder war er ergriffen vom Zauber eines neuen Gesichtes oder er führte sie fest und sicher in einen Tod ohne Erbarmen. Was will er? Warum redet er nicht? Was wäre ein Liebespaar, das sich nicht lieb hat?

Sie kamen in eine Straße mit Steinpflaster, dann in eine größere Straße. Sie sagte ein paar Mal etwas über den Schnee, über die Stille des Parks, über den weiten Weg, aber das waren nur vergebliche Stichworte, auf die sie nicht die Antwort bekam, auf die sie wartete. Dann befanden sie sich vor irgendeinem Haus, von dem sie nicht einmal Notiz nehmen konnten, weil sie plötzlich vor dem Tor standen.

„Verzeihen Sie, dass ich Sie so weit bemüht habe, aber jetzt muss ich gehen.“

„Ich hindere Sie nicht, aber ich erlaube mir, mit Ihnen zu gehen.“

„Warum?“ hauchte sie erschrocken.

„Ich habe ein Recht darauf!“

„Wieso? Sie kennen mich doch nicht einmal!“

„Gerade deshalb. Ich werde das erfahren. Und übrigens, was macht es aus!“

„Lassen Sie mich! Sie brauchen keine Angst haben, ich laufe nicht weg, nur –„

Er ließ sie, aber er lauerte. Sie öffnete ruhig die Tasche, hielt sie offen, wühlte in ihr und sah ihm dabei mit einem geheimnisvollen Blick in die Augen.

„Warum sind Sie so traurig?“ fragte sie.

„Dazu darf ich mich nicht bekennen,“ antwortete er.

„Es enttäuschte sie etwas oder –„

„Ich wurde nicht enttäuscht, aber das sind nutzlose Fragen. Für Sie kann das interessant sein, ich aber werde nicht darüber sprechen.“

„Ich möchte Ihnen gern helfen,“ antwortete sie; dann war zu hören, dass sie in der Tasche irgendein Papier zerknüllte, sie zog die Hand heraus, schloss die Tasche und steckte ihm etwas in die Manteltasche. Er wollte schnell in die Tasche greifen, aber sie fasste ihn bei der Hand, so dass er nicht wusste, was geschah und was er sich denken sollte.

„Was haben Sie mir da gegeben?“

„Das ist Geld, es ist nicht viel.“

„Geld? Von Ihnen? Und wofür?“

Sie sah in seinen Augen Funken irgendeines Wahnsinns. Sie war schwach in seiner Hand. Sie musste die ganze Kraft aufbieten, damit sie nicht zitterte. Als sie sich in der Gewalt hatte, drehte sie das Gesicht ins Licht mit einem unbekümmerten Lächeln, das ihre Zähnchen enthüllte.

„Aber jetzt muss ich wirklich nach Hause gehen,“ sagte sie fröhlich.

Er wollte antworten, sah aber noch, wie ihre Zähnchen aus den geöffneten Lippen hervorlachten und das Gesicht sich wie durch den Anhauch irgendeiner Schneekönigin entspannte und ihre Stimme ihn ebenso wie ihre Worte irgendwo in der Tiefe der Erinnerung berührten. Er sah sie an und es schien ihm, dass ein vergessenes und aus dem Winterschlaf erwachtes Gänseblümchen sich durch den Schnee zwängt, die noch geschlossenen Lippen öffnet und schon in seiner ganzen Schönheit erstrahlt.

„Gut,“ sagte er in Gedanken versunken.

„Also gute Nacht!“ rief sie und verschwand mit einem katzenhaften Sprung in der Durchfahrt. Im tiefen Dunkel der Durchfahrt blieb sie aber plötzlich stehen, entweder angerührt vom Schicksal oder in der undurchdringlichen Dunkelheit zu neuer Hoffnung und lechzender Neugier erweckt. Aber im nächsten Augenblick war er hinter ihr, ergriff sie im Dunkeln an der Jacke, an der Hand. Sie blieb stehen. Es war nicht nötig, die Jacke zu zerreißen.

„Ich bitte Sie, was tun Sie?“ rief sie vorwurfsvoll.

„So nicht, mein Mädchen. Eine gute Nacht haben wir uns noch nicht gegeben und es eilt auch nicht.“

„Was wollen Sie tun?“

„Ich gehe mit Ihnen.“

„Jetzt gehe ich noch nicht nach Hause! Ich gehe in die Stadt.“

„Wie Sie wollen! Meinetwegen bis ans Ende der Welt.“

„Und das würde ich mir ansehen!“ schrie sie auf, riss sich los und sprang auf die Treppe. Aber das sollte nicht ihr Sieg sein. In wenigen Augenblicken fand sie sich in seinen Armen. Auf der Treppe war niemand.

Sie packte ihn mit beiden Händen, wie vor Schreck, dass er mit ihr hinunterfällt.

„Lass mich los, du tust dir ja was! Ich werde mit dir gehen.“

Er trug sie jedoch weiter und erst mit einem Kuss kaufte sie sich los. Sie ging jetzt gehorsam und ließ sich führen. Sie senkte den Kopf, damit er ihr nicht ins Gesicht sah, auf dem sich ein Lächeln ausbreitete. Als sie in das unbestimmte Halbdunkel des Obergeschosses kamen, sperrte sie die Wohnung auf und blickte sich nach ihm um:

„Hast du Streichhölzer?“

Er hatte welche und hielt sie bereit. Um zu zeigen, dass sie nicht vorhatte, ihn zu täuschen, ließ sie ihn vor sich in das Vorzimmer gehen.

„Mach Licht!“

Sie ging ihm vor und öffnete die Tür des Zimmerchens, in dem sich von der Aschenlade aus ein mattes zartrosa Zwielicht verbreitete. Das Zündholz verlosch.

„Hier ist es,“ sagte sie leise, führte ihn hinter sich hinein und schloss die Tür.

 

Er war mit Gemüt und Verstand in höchstem Aufruhr. Das war der letzte Augenblick der Freiheit, in dem er zwar schon wusste, dass er nicht zurückweichen wird, was auch immer geschehe, dass das Urteil zwar schon niedergeschrieben sein musste, aber immerhin noch nicht unterschrieben war. Die Luft um den Ofen herum sang leicht und schmeichlerisch, ein unsichtbarer Wecker klickte im Schatten, der Schein aus der Aschenlade beleuchtete die Sesselbeine und einen Zipfel des alten Teppichs. Und gleich daneben war nur noch der Atem eines Mädchens zu hören; irgendeines Mädchens. Oh, nach einer Weile wird er sie sicher küssen, aber wenn es wenigstens gleich jetzt geschähe, bevor die Lampe aufleuchtet und sie ihm womöglich doch noch aus den Augen, aus dem Sinn, aus der Welt verschwände!

Sie ertastete die Zündholzschachtel und zündete die Petroleumlampe an. Das Zündholz loderte in ihrer Hand mit einer langen Flamme, vor der ihre Pupillen hervortraten wie aus einem Wald und das Gesicht den Ausdruck einer strengen Frömmigkeit annahm. Sie setzte den Lampenschirm auf die Lampe, nahm dem Gast Hut und Mantel ab und bot ihm den Stuhl an. Sie stützte sich auf das Bettgestell und sah ihn an.

„Hier ist es armselig, nicht wahr?“

Er antwortete nicht.

„Wir hätten doch in der Stadt abendessen sollen, bevor wir hierher gegangen sind,“ sagte sie nach einer Weile.

„Das läuft uns nicht davon. Das Abendessen bekommen wir vielleicht auch um Mitternacht. Und ohne Abendessen werden wir auch nicht sterben.“

Sie kniete nieder und schürte die Kohlen im Ofen.

„Soll ich noch nachlegen?“ fragte sie, halb zu ihm gewandt.

Und als sie so vorgebeugt kniete und wie ein nächtliches Lied der Einsamkeit aufblickte, stand ihr seltsamer Geliebter auf und sie sah ihn von unten her erwartungsvoll an, klein wie eine Magd, sicher wie ein Kind und schön wie eine Geliebte. Er stützte sich auf die Tischkante. Sie hielt die Kohlenschaufel in der Hand, während der Schein der glühenden Kohlen und die Glut der Asche ihr Gesicht erhellten.

„Es wird dir heiß sein. Warum ziehst du dich nicht aus?“

„Ich?“ fragte sie wie von fern her und auch ihr Lächeln kam von weit her und wärmte wohl noch mehr als die Wärme des Ofens.

Sie schloss das Türchen und stand auf. Schnell nahm er sie in die Arme. Ihr Hut behinderte ihn. Er nahm ihn ab und die leichten Locken hoben sich wie zerzauste Blumen. Er legte ihn auf den Tisch und betrachtete sie wie einen erbeuteten Vogel. Soll er ihr etwas sagen? Etwas Ruhiges, damit sie sich nicht fürchtete, wenn sie sein werden wird, wenn nun er für sie sorgen wird bis zum Tod. Schon streckte er die Hand nach ihr aus, um ihr die Jacke auszuziehen, als sie die Arme öffnete und ihn umschlang wie eine Ertrinkende.

Der Tisch samt der Lampe bebte. Sie schmiegte ihren Körper an, aber den Kopf hielt sie hoch und mit den Händen hielt sie sich am Kragen seiner Jacke fest.

„Zeig dich mir, zeig mir, ich bitte dich, wer du bist!“ bat er, von ihrer Schönheit überwältigt.

Sie küsste ihn.

„Das bin ich!“ flüsterte sie während des Kusses.

Er knöpfte ihre Jacke auf. Sie wehrte sich wie eine Katze.

„Warum knöpfst du mir auf? Stört dich das?“

„Nein, aber an dir stört das. Zeig dich mir!“

Eine Weile lockte ihre Lippe über einem holden Lächeln der Zähnchen, eine Weile flammte in ihrem Gesicht eine lebhafte Freude auf, eine Weile hielt sie ihre Jacke fest, dann ließ sie ihre Hand sinken wie ermüdet vom Spiel. Sie lehnte den Kopf hingebungsvoll an seine Schulter. Soll er sie auf den Mund küssen, auf die Augen, oder die Jacke aufknöpfen? Beides lockte in gleicher Weise. Während er den letzten Knopf öffnete, hielt sie schnell die Jacke fest. Er umfasste sie und öffnete die Jacke wie einen Vorhang, der ein bezauberndes Geheimnis verdeckt.

Sie schüttelte eine Schulter und die Jacke glitt herab. Dann streifte sie, während sie ihn ansah, die Jacke auch von der anderen Schulter ab und warf sie über den Sessel. Und da rang ihr Geliebter eine Weile, als schluckte er Feuer oder einen Wasserfall, und plötzlich kniete er ihr zu Füßen nieder, drückte ihr die Hand, dann fiel er zu Boden, neigte sich zu ihren Schuhen und sie erschauerte vor Schreck, dass vielleicht der, auf den sie sich so gefreut hatte, aus jäher Freude plötzlich stirbt.

Sie neigte sich zu ihm und streichelte ihn. Er stand auf, von der Freude geblendet, und konnte nicht sprechen. Sie wollte sich an ihn schmiegen.

„Nein, komm‘ mir nicht so nahe!“

Sie trat zurück und überließ ihm ihre ausgestreckte Hand. Er ließ sie fallen. Und obwohl sie ungern Tränen in den Augen von Männern sah, war sie auf die Tränen in seinen Augen jetzt doch stolz.

Er fand in der Westentasche einen goldenen Ring. Es war jener Ring. Er steckte ihn sich an. Dann sah er wieder sie an. Sie konnte es nicht mehr erwarten, dass er sie küsste, aber er schluchzte nur vor unbändiger Freude.

Ja, das war jenes schöne Mädchen, golden und rosenfarben, in jenem Kleidchen, wie er ihr vor zwei Jahren in der Stadt auf einem Spaziergang begegnete! Diese Füßchen waren es. Dieses Mädchen, so arm, schön, voll Frühling und Fröhlichkeit. Er betrachtete ihre Hände und Finger, ob sie so abgearbeitet waren, ob sie ihre waren. Im Lauf der Zeit haben sie sich verfeinert, oder vielmehr haben sich auf ihnen die Spuren der Dienstmädchen­arbeit verfeinert. Duftete ihr Kleid nach Seifenschaum, Erde und Armut? War darin Gottes Sonne zu spüren, die die Wäsche und Kleider der Armen trocknet? Gern hätte er sich an die Brüste des Mädchens drücken lassen, aber noch nicht, noch hielt er sie zurück, während sie sich ihm fast auf den Zehenspitzen näherte. Noch hob er die Augen zu ihr auf, noch wollte er etwas wissen.

Sie blickte verträumt, sehnsüchtig, dann lächelte sie und biss sich auf die Lippen.

„Nun, hast du sie gefunden?“ fragte sie voll Freude und ein wenig scherzhaft.

„Warte, damit ich dich vorher anschauen kann!“

Sie ließ ihm Zeit, sie anzusehen. Er ging um sie herum wie ein Bär, sie konnte sich nicht einmal mit ihm herumdrehen. Aber da umarmte er sie und begann liebevoll ihren Namen zu rufen, diesen süßesten, den ein Mann kennt, und als es schien, dass es nichts Weiteres mehr zu bedenken galt, schluchzte er vor Glück:

„Mein Gänseblümchen! Siebenmal Geliebte, siebenmal Gefundene, siebenmal Holdselige, wenn ich siebenmal am Leben wäre, könnte ich dich noch immer nicht genug lieb haben!“

Und da quollen ihr Tränen aus den Augen, sie warf sich ihm in die Arme und schluchzte an seinem Hals das schönste Geständnis einer Liebe ohne Worte.

Dann saßen sie an dem Tisch einander gegenüber und die Lampe stand seitwärts auf dem Tisch. Sie erzählten sich; sie wussten nicht viel über sich, nur über ihre Angst, Ungewissheit und Qual, über ihre Verwunderung, wenn er ihr begegnete, ohne sie zu erkennen. Er schloss seine Augen halb und sah unter den Wimpern hindurch sieben Bilder; er öffnete die Augen und sah nur mehr eines. Er dachte, dass er immer wieder staunen wird, wie das möglich ist, dass von dieser Einzigen wie von einem Regenbogen sieben geheimnisvolle Strahlen ausgingen, sieben Leben, siebenerlei Glück. Und mittlerweile saß sie ihm einfach, herzlich und still gegenüber, wartend auf jedes Wort und glücklich in seiner Nähe. Dann berichtete sie selbst alles, was sich seit dem Augenblick ereignete, als er sich von ihr nach der Begegnung auf dem Friedhof verabschiedete. Je trauriger und einsamer ihre Lebensabschnitte waren, umso tiefer drang Ruhe in die Stimme ihrer Erzählung, umso klarer und lebhafter trat der Umriss ihres blauen Kleides aus der späten Dunkelheit hervor, umso trauter wurde ihr Beisammensein und umso stärker ihre Gewissheit, dass sie sich für immer gefunden haben. Sie berichtete von ihrem Dienst in dem ländlichen Stadtteil, wo er ihr in dem Kleid begegnete, das sie jetzt anhat. Dann öffnete sie den Korb, legte die Schachtel mit den Photographien auf den Tisch und zeigte ihm die eine, die sie ihm schicken wollte, es aber unterließ aus der Überlegung, dass er sie auch ohne Porträt finden und erkennen würde. Sie wusste gut über ihn Bescheid, auch als er übersiedelte; und als sie ihre Stelle wechselte, um als Verkäuferin zu arbeiten, wollte sie ihm just einen Tag, bevor sie von seinem Kommen überrascht wurde, schreiben. Sie hatte den Brief damals nicht abgeschickt, weil ihr schien, dass sie nicht briefschreiben kann. Als er kam, war es nicht mehr nötig zu schreiben. Damals ärgerte sie sich schon darüber, dass er sie nicht erkannte. Sie nahm sich vor, sich vor ihm zu verstecken, musste aber in dieser Stadt bleiben und als Dienstmädchen arbeiten, weil sie keine bessere Stelle finden konnte. Damals sehnte sie sich sehr nach ihm. Plötzlich kam er wieder. Sie wäre damals am liebsten zu ihm auf die Straße gelaufen, aber sie wartete bis zum späten Abend, als er so lange hinter ihr ging, bis die Sehnsucht sie zusammenführte. Und als sie damals allein waren, führte sie die ganze Sehnsucht des Wartens in seine Arme und er zog ihr die Hand zurück, als sie sich gegen seine Umarmung wehren wollte. Sie sah damals seine Sehnsucht, fürchtete sich aber sehr vor sich selbst und vor ihm. Sie hätte sich gern zu allem bekannt, sich geoffenbart und wäre mit ihm gegangen. Sie hätte sich gegen nichts gewehrt, aber betteln wollte sie nicht. Und auch wenn sie sich damals nur bekannt, geoffenbart hätte, so wäre das schon ein Betteln gewesen. Aber alles gelang ihr. Nach mehreren Tagen trat sie die Stellung an, die er selbst ihr verschafft hatte, sah sich in Prag um, kleidete sich ein und machte sich zurecht, fand ihn, sah ihn von weitem. Dann begegnete sie ihm in der Straßenbahn. Sie freute sich, dass er ihr nachkam, als hätte sie das sicher gewusst. Aber es schien ihr, dass er sich mit ihr doch nur spielt wie mit einem hübschen Bild. Sie sah, dass er sie nicht erkannte.

Sie war ihm dankbar für die beharrliche Liebe, freute sich über seine unbewusste Galanterie; das freute sie gerade dann besonders, als sie zu begreifen begann, dass er immer wieder um sie warb, und dass sie ihn jedes Mal so fesselte, dass er im Stande war, um ihretwillen untreu zu werden und sogar die ihr selbst in ihren früheren Gestalten gegebenen Versprechen, die ihn so seltsam verwirrten, zu verraten. Sie hätte ihn am liebsten geküsst für seine Angst und Beklemmung, für seine Gewissensbisse, für seine Sehnsucht und auch für die Dummheit, denn diese kam fast zur Gänze aus dieser innigsten Liebe. Aber nun schien es, dass er noch Angst hat, dass er weiterhin weder sich selbst noch ihr vertraut, dass er noch alles wie einen schmerzlichen Traum ansieht. Dann waren sie das letzte Mal beisammen. Damals, damals – Was wollte sie ihm alles sagen?   Ach ja, damals sah sie, dass er schon Abschied nehmen wollte, vielleicht auf immer. Aber eines erkannte sie damals aus seinen Worten über die nächtliche Wanderung durch den Wald in die fremde Stadt, dass nämlich die Erinnerung an das Dienstmädchen, das mit ihm durch die Ahornallee ging und auf das aus seiner Hand das vertrocknete Gänseblümchen aus dem Friedhof gefallen war, für ihn das Kostbarste war, dass sie ihm in ihrem Leben am meisten damals gefiel, als er sie in der größen Armut und Erniedrigung sah, und wo ein anderer, besser gekleideter Mann sich überlegt hätte, ob er sich erlauben kann, mit ihr auf der Straße zu gehen.  Und da ging sie ihm eines Abends entgegen. Es fiel ihr schwer, lieber wäre sie davongelaufen; als sie sich zu ihm umdrehte und ihm in die Augen sah, wurde sie von ihrer Hingabe überwältigt. Sie wäre gern mit ihm gegangen oder hätte ihn mit sich geführt. Aber statt der Erfüllung dieses Wunsches bekam sie von ihm für den Kuss Geld. Sie glaubte in Ohnmacht zu fallen; mit Mühe schleppte sie sich zur Straßenbahn und war über die Maßen traurig. Sie sagte sich, dass vielleicht auch ihm so traurig zumute ist. Es war aber doch verwunderlich, dass er sie so oft sah, gern hatte, nicht erkannte und verlor. Auch ihr bereitete es eine schmerzliche Wonne, als sie das verstand. Aber sie konnte das nicht mehr ertragen und hatte Angst vor ihm. Darum tat sie heute das, was er sah und hörte.

Sie erzählte zuerst langsam, dann schneller und knapper, denn sie wollte schon zum Ende kommen. Er musste sich nicht mehr fürchten; jedes Wort floss aus einer wundervollen Innigkeit und Freude in das Dämmerlicht der Vergangenheit wie das Ticken einer Uhr. Es genügte nicht, ihre Worte aufzunehmen, er fürchtete sich wie ein Wucherer, dass ihm auch nur ein Wörtchen von ihr verloren ginge, und doch empfand er am Ende ihrer Erzählung eine tröstliche Freude, da er wusste, dass sich nun ein rührendes Lächeln der Freude und Versöhnung auf ihre Lippen legt, dass er sie dann an sich ziehen und küssen wird.

Und als die Erzählung zu Ende war, sah die Lampe ihre Küsse und die glühenden Kohlen im Ofen raunten mit gedämpften Seufzern.

Sie sah sich in dem Kämmerlein um. Er sah sie an und sie bemerkte es. Sie errieten, was das bedeutet. Jetzt, da sie sich nicht mehr vor einem geheimen Zauberer fürchten mussten, wollte er alle sieben befreiten Prinzessinnen sehen. Er nahm ihre Hüte in die Hand, ihre Handschuhe, freute sich darüber, dass er diese Dinge in der Hand halten kann, und legte sie dann sanft und langsam wieder hin. Er lächelte über ihre zusammengefalteten Hemdchen, betrachtete ihren Korb, das Nadelkissen und den Fingerhut, setzte sich in ihren Stuhl, nahm die Kohlenschaufel, legte ein paar Kohlen nach.

Da das Glück nach dem Sturm inniger und reiner ist als das stürmische Glück, waren auch ihre Umarmungen rein und still; sie hatten keine Eile, sie hatten es nicht nötig, etwas an sich zu reißen. Jetzt war Zeit zu blühen. Sie sprachen über die Hochzeit. Es gab keine Versuchung, denn es gab keine Angst mehr, dass die Liebe entschwinde, und die Schönheit des Begehrens verwandelte sich in die Schönheit des Vertrauens, in ein Glück, das der Mensch nicht mehr verstecken muss, sondern dessen er sich rühmen kann. Auch wenn es keine Eile gab und niemand sie auseinander jagte, verlangte das Zimmer des Mädchens doch noch nach Ruhe. Das Mädchen musste noch darin schlafen. Die Zeit verflog, und auch das Herz hat einen langen Weg zurückgelegt.

Obwohl sie sich schon das feste Gelöbnis der Liebe gegeben haben, ist jede Trennung doch noch schwer. Sie sah ihn an, erriet etwas und sagte mit einem Lächeln:

„Machst du dir noch Sorgen um meinetwillen? Mach dir keine Sorgen mehr! Ich werde dir nie mehr verloren gehen.“

Er ging zum Schrank. Sie lief zu ihm.

„Willst du mir die Ausstattung schon wegschaffen, damit du Gewissheit hast?“

Er wollte sie küssen, aber sie entzog sich und begann in aller Eile die meisten ihrer Sachen in den Korb zu legen.

„Das ist nicht schwer,“ sagte sie, „und wenn es dich freut, bring es weg!“

Sie hatte die Hand noch immer am Griff des Korbs; der Korb war zwischen ihnen. Er zog sie auf den Korb.

„Damit du nicht sagen kannst, dass du mir einen Korb gegeben hast,“ sagte er und drückte sie an sich; „darum musst du dich selbst auf ihn setzen.“

Die Tür war schon geöffnet, sie folgte ihm mit der Lampe, die ihr lustvoll ins Gesicht schien. Die Lampe strahlte Licht aus, ihr Kopf und ihre Schultern erstrahlten in Schönheit und die Schatten senkten sich sanft. Schon war auch die Tür zur Treppe geöffnet. Die Augen glänzten wie Lichter im dunklen Wald. Es wird Nacht. In diesem Augenblick könnte man gemeinsam sterben wollen.

Aber plötzlich lächelte er und zog sie an sich; sie hielt die Lampe weg und wartete, was er sagen wird.

„Du wirst mir nicht sterben, gelt? Gänseblümchen sterben nicht einmal unter dem Schnee, nicht einmal durch Frost. Du wirst ewig leben, gelt?“

 


 

 


 

 

Nachwort des Übersetzers:

In Anlehnung an das Büchlein von Jaroslav Durych:

Jak Vykvetla Sedmikráska (Wie Sedmikráska erblühte)

 

 

Jaroslav Durych wurde am 2.12.1886 als Sohn eines lokalen Redakteurs in Königgrätz geboren. Als er sechs Jahre alt war, starb seine Mutter, fünf Jahre später sein Vater. Auf Wunsch seiner Großmutter begann er ein Studium am erzbischöflichen Konvikt in Příbram. Ein Lehrer dieses Instituts, Dr. Franz Bauer, weckte in den Studenten das Interesse für Literatur und regte auch sie selbst zum Schreiben an. In dieser Zeit begann Durych, Freundschaft mit Dichtern dieser Generation zu schließen und wurde selbst einer der bedeutendsten Dichter der Zwischenkriegszeit.

Als das österreichisch-ungarische Kriegsministerium Militärärzte suchte und Stipendien gewährte, ergriff er die Gelegenheit, Medizin zu studieren. 1913 promovierte er und wurde im Ersten Weltkrieg an der Front in Italien und Galizien eingesetzt, wo er vier Schlachten erlebte. Nach dem Krieg wurde Durych nach Uschgorod in der karpatischen Ukraine versetzt, wo er sogar als Militärarzt unter primitivsten Verhältnissen lebte.

 

Die Jahre im Ersten Weltkrieg und in Uschgorod stellen die erste von drei Lebensphasen dar, die Durych in seinem Leben unterschied.

Diese erste Lebensphase Durychs war durch die harten und belastenden Erlebnisse und Erfahrungen des Kriegseinsatzes und die Erfahrung von Not und Elend gekennzeichnet. Seine ersten Werke hat Durych „in Holzhütten im Schlamm und Unterholz Ostgaliziens geschrieben, in Arbeitspausen beim Rückzug und in etwa vier Schlachten immer nur für ein paar Tage. Im Sommer 1921 bis 1922 wurde diese freiwillige Klausur noch dadurch unfreiwillig verschärft, dass ich in einer Zeit der schlimmsten Wohnungs- und Wirtschaftsnot nach Uschgorod versetzt wurde, und dort wohnte ich die ganze Zeit in einem dunklen und stickigen Zimmerchen im Erdgeschoss mit einem Fenster in den Lichtschacht, auf dessen Boden sich in allerlei Müll Ratten tummelten.“ (Wie alle Zitate in diesem Nachwort ist auch dieses Zitat dem Büchlein „Wie Sedmikráska erblühte“ entnommen.)

Nach dem einjährigen Aufenthalt in der Karpatho-Ukraine folgte ein einjähriger Aufenthalt Durychs in Prag, wo er in einer Klinik arbeitete. Ende 1923 wurde er jedoch auf Dauer nach Olmütz versetzt, in das Divisionsspital in der Burg. In Olmütz blieb Durych bis 1937. Dann zog er wieder nach Prag, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1962 lebte.

 

Die drei Phasen seines Lebens beschreibt Durych so:

„In der ersten Phase versucht der Mensch, die größten Höhen des intellektuellen und emotionalen Nachsinnens zu erreichen, wenn er versucht, die höchsten Gesetze der Gerechtigkeit zu finden und ihre Großartigkeit und Strenge zu erkennen, und wenn er bereit ist, allein zu gehen, allem zu entsagen und alles zu verlassen.

In der zweiten Phase fühlt jedoch der Mensch nicht nur die Last der Einsamkeit, sondern auch Mitleid mit der Welt. Jetzt sucht er nicht die höchste Gerechtigkeit, sondern das höchste Erbarmen. Er will nicht mehr alles verlassen, sondern würde gern mit allen sein und allen helfen. Er selbst versöhnt sich und seine Belohnung dafür ist, dass auch die Welt sich ihm in ihrer menschlichen Schönheit zeigt, und seine Sinne sind dann empfänglicher für die verborgene und verletzte Schönheit von Körper und Herz, kurz, er sieht, wie mit dem Leben die Trümmer des Paradieses leuchten und wegen dieser Erkenntnis hofft er auf Gnade für die ganze Welt.

Dann kommt die dritte und letzte Phase in dem Augenblick, in dem ein Mensch fühlt, dass er schon in den Bereich des Todes geraten ist; er hat vielleicht noch weit zum Ziel, weiß aber schon, dass der Tod ihn vorgemerkt hat und dass er schon von ihm beobachtet wird. Von da an spürt er unweigerlich Frust über Frust, Eitelkeit über Eitelkeit nach dem Psalmisten, und würde herzlich gern jeden Ehrgeiz, jede Freude, Ruf und Zufriedenheit aufgeben, wenn er sicher sein könnte, dass sein eigenes Wesen am Ende aller Dinge nicht vergebliche Eitelkeit der Eitelkeiten sein wird.“

„Sedmikráska entstand demgemäß in der zweiten Phase meines Lebens und meiner Arbeit. Die Eindrücke, aus denen sie entstand, lagerten in meiner Erinnerung etwa ab meinem fünfunddreißigsten Jahr; die Absicht, sie niederzuschreiben, entstand jedoch erst ein paar Wochen, bevor ich zu schreiben begann und da war ich gerade achtunddreißig Jahre alt.“ (Jaroslav Durych schrieb Sedmikráska von Dezember 1924 bis Februar 1925.)

In dieser zweiten Phase „drangen viele Eindrücke und Bilder von allen Seiten immer wieder in meinen Kopf. Das war eine alltägliche Realität, die wie eine Flut durch die offene Schleuse in die Seele hereinbrach. Danach, als mich ein Mitgefühl mit dem Leben erfasste, versuchte mir das Leben zu zeigen, was es an Zartestem, Berührendstem und Schönstem hatte.“

 

„Sedmikráska“ ist das schönste Buch der zweiten Phase und gilt auch als eines der schönsten Werke der tschechischen Literatur. Es wurde gut ein Dutzend Mal neu aufgelegt. Übersetzt wurde es jedoch nur dreimal: 1932 ins Slowenische und Serbokroatische und 2006 ins Russische. Die vorliegende deutsche Übersetzung wurde in der Absicht angefertigt, diesem wunderschönen Roman den Weg in die westliche Kultur zu öffnen.

Sedmikráska heißt wörtlich übersetzt „Siebenschön“ und ist der geläufige tschechische Ausdruck für Gänseblümchen. Dieser Titel wurde für die deutsche Übersetzung beibehalten, obwohl für Gänseblümchen im Deutschen eigentlich das poetische Wort „Tausendschön“ verwendet wird. Der Grund: Siebenschön entspricht der siebenfachen Gliederung, die in diesem Liebesroman vorherrscht.

Seit der ersten Veröffentlichung ist Sedmikráska von Lesern immer wieder für ein Märchen gehalten worden. Durych war mit dieser Auffassung nie einverstanden und hat ein kleines Büchlein verfasst, in dem er eingehend die Entstehung und das Wesen seines Romans „Sedmikráska“ erklärt. Es erschien 1929 mit einer Auflage von 320 Exemplaren unter dem Titel „JAK VYKVETLA SEDMIKRÁSKA“ – „WIE SEDMIKRASKA ERBLÜHTE“. Alle unter Anführungszeichen angeführten Textstellen in diesem Nachwort sind diesem Büchlein entnommen.

 

„Sedmikráska“ ist die einfache und auf Alltagsmaterialien aufgebaute Geschichte von einem Mädchen, dessen einziger Reichtum ein einfaches Herz ist, und von einem jungen Mann, dessen Stärke die Nostalgie der Armut und Liebe ist.“

„Diese Geschichte ist nicht in ihrer ganzen fertigen Form aus der Wirklichkeit entnommen worden...“

„Und doch ist in dieser ganzen Geschichte vielleicht nicht ein Satz, und wäre er noch so kurz, dessen nüchterne und alltägliche Wahrheit nicht jeder Leser vielleicht hundert Mal im Jahr fast überall um sich herum bestätigen könnte. In dieser Geschichte ist nämlich alles, wirklich alles aus der Realität genommen und das nicht etwa aus irgendeiner seltenen und außergewöhnlichen Realität, sondern aus der alltäglichsten Wirklichkeit.“

„Diese Geschichte habe ich natürlich selbst geschrieben, aber ich kann nicht sagen, dass ich sie selbst ausgedacht hätte. Vielmehr habe ich sie in all diesen Dingen gesehen und beobachtet. All diese jahrelang beobachteten alltäglichen Details hatten in sich so viel märchenhaften Zauber, dass sich dann in meinem Kopf alles eher aus sich selbst und aus seiner eigenen Kraft in dieser Geschichte zusammengefügt hat.“

„Meine Hauptaufgabe war es, die Schönheit der Mädchen in voller Kraft und Vitalität der Jugend zu zeigen, wenn sie sich zur Sonne drängt und Hindernisse überwindet, die ihr Armut und die Missgunst des Schicksals bringen. Zuerst stelle ich einige Motive aus meiner Beobachtung vor.“

„Die Wirklichkeit zeigt manchmal vollständige und fertige Bilder der Schönheit, so dass es dem Künstler völlig genügt, sie einfach einzufangen. Das wichtigste Anzeichen solcher fertiger Bilder ist, dass sie plötzlich und unvermutet kommen. Man kann Hunderte und Tausende Mädchen sehen, die baden, sich ausziehen oder anziehen und eine solche Anmut des Körpers und eine solche Vornehmheit der Bewegung haben, dass man sich nicht mehr wünschen kann, und doch können sie nur der Gegenstand trockener Studien oder handwerklich gestaltender Aufmerksamkeit sein und nicht die geringste Erregung der Phantasie gewähren.

„Schönheit, die die Phantasie entzündet, hat ihr bestimmtes Ritual und dazu gehören eine gewisse Einsamkeit, Plötzlichkeit und Überraschung.“

 

Diese Plötzlichkeit und Überraschung schildert Durych in den folgenden Erlebnissen:

 

„Ich schwamm einmal in einem mährischen Fluss, als nur ein paar Leute anwesend waren, und ich ließ mich vom Strom tragen, an dichten Weiden vorbei. Ein Mädchen, das ich vorher noch nie im Fluss sah, begann sich gerade anzuziehen. Sie war auf allen Seiten durch dicke Weiden verdeckt, nur direkt vom Fluss aus war es möglich, sie durch einen schmalen Durchbruch in den Weiden zu sehen, und weil im Fluss nur etwa drei Menschen waren, sehr weit voneinander entfernt, fühlte sie sich völlig sicher vor allen Blicken. Kniend zog sie ihr Hemd an; nur ihre Brüste waren halb entblößt… Es war ganz still, nur das Wasser plätscherte und die Blätter rauschten. Die Bewegungen des Mädchens waren sehr einfach. Ich gebe zu, dass ich angehalten und sie etwa drei Sekunden beobachtet habe, aber ich habe mich nicht verraten und ich hatte davon sicher nichts vorausgeahnt.“

 

„Ein paar Jahre zuvor näherte ich mich an einer der tiefsten Stellen inmitten des Böhmerwaldes gegen die Windrichtung bis auf einen halben Schritt einem Rehkitz, das in einer hohen blühenden Wiese graste, so dass ich es mit der Hand hätte fangen können. Ich freute mich sehr, weil es vor mir herging, den Kopf hob, ich sah ihm in die Augen und trotzdem beachtete es mich nicht. Aber ich stand so lange über ihm, bis es mich bemerkte, und dann verwandelte sich meine Freude in Traurigkeit. Es schreckte nämlich so heftig auf, dass es scheu wurde und sein Blick voll panischer Angst und Verzweiflung war. Ich musste weglaufen, damit es mich nicht sah, wenn ich wollte, dass das verzweifelte Jammern und sinnlose Herumlaufen und an Baumstümpfe und Steine Anstoßen aufhörte. Damals wusste ich das natürlich nicht, aber seit dieser Zeit würde ich nie mehr ein Tier oder Kind aufscheuchen oder erschrecken. Das sind nämlich bestimmte Fälle des Zusammentreffens mit lebenden und unbelebten Dingen, die wir als Offenbarungen bezeichnen, und obwohl das nur natürliche Offenbarungen sind, haben sie ihr Ritual und wenn wir das unterbrechen, dann gehen uns alle Vorteile, Charme und Schönheit ohne Entschädigung verloren.“

 

„Ich erwähne einen Fall, den ich in meinem Prosawerk „Duše" (Seele) beschrieben habe. In einem Moment der geistigen und körperlichen Ermüdung und Langeweile sah ich auf der Straße eine eher unangenehme alte Frau, die mir entgegenkam. Ihre Gestalt, ihr Gang und ihr ganzer Aufzug war so hässlich wie es nur möglich ist, kurz: eine Hexe. Sie schob einen Kinderwagen und neben ihr gingen mehrere Kinder. Als ich ein paar Schritte davor war, hörte ich, wie ein Arbeiter, der bis zu diesem Zeitpunkt von einem dicken Baum vor meinem Blick verdeckt war, sie scherzhaft fragte, wo eine so alte Frau noch so kleine Kinder hernahm. Die alte Frau antwortete trocken, dass ihr schon die zweite verheiratetete Tochter gestorben ist, dass sie die Kinder ihrer ersten Tochter genommen hatte und jetzt auch die Kinder ihrer zweiten Tochter, damit sie nicht in ein Waisenhaus kommen mussten. Und das war so ein Augenblick der Einsamkeit und Plötzlichkeit. Die alte Frau hatte ich nämlich aus der Ferne gesehen, aber den Arbeiter hatte ich nicht gesehen, bis die alte Frau zu antworten begann. Dieser Arbeiter hat aus seinem Versteck mit seinen Worten plötzlich die Schönheit der alten Frau offenbar gemacht.“

„An ihr war diese Schönheit nicht, sie war in ihr verborgen und musste herausgerufen werden. Lassen Sie mich einige Lichtblicke dieses Falls erklären! Die alte Frau auf der einen Seite und ich auf der anderen Seite kamen zu dem Baum, wo der Arbeiter in diesem Augenblick stand. Wenn ich eine Minute später oder eine Minute früher gekommen wäre, hätte ich diese Frage und Antwort nicht gehört und auch niemand sonst hätte sie gehört, denn die ziemlich lange Allee war leer und diese Worte wären wie Rufe in der Wüste verhallt. Und diese alte Frau war in diesem Augenblick wunderschön und der Eindruck von ihrer Schönheit war genauso gewaltig wie der Eindruck der plötzlichen Offenbarung der herumtollenden Jugend selbst.“

 

„Ein andermal bin ich in der abendlichen Dunkelheit in den Nachtdienst geeilt und musste durch eine Allee gehen, in der zu dieser Zeit Leute aus der schlimmsten Unterschicht der Vorstadt zu gehen pflegten. Inmitten dieser Einsamkeit kamen mir etwa drei lärmende Halbwüchsige entgegen, nebeneinandergehend, sich aneinander klammernd, und auf meiner Seite führten sie ein Mädchen. Ihr Aussehen war in der Dunkelheit völlig verschwommen, die Stimmen waren grob und roh, und um sie zu meiden wich ich seitwärts gegen den Graben aus. Und dann, ins Dunkel gehüllt, packte mich das Mädchen plötzlich am Arm und drückte mir mit sonderbar kühner Aufrichtigkeit die Hand. Wir blieben nicht stehen und jeder ging dabei in seiner Richtung weiter. Es war sehr seltsam. Man könnte sagen, dass das dumm war, war es aber nicht, ich fühlte in diesem Händedruck etwas, das man das Heulen des Lebens nennen könnte, und dieses echte, unverfälschte Heulen des Lebens war nur verdeckt unter einer verfälschten Rauheit.“

 

„Die Motive, die mir geholfen haben, Sedmikráska zu gestalten, zu überarbeiten und zu korrigieren, waren zahlreich, und aus diesen ist im Buch nur ein kleiner Teil erhalten oder angedeutet. Ich muss sagen, dass ich aus diesen Motiven nie welche gesammelt habe; sie sind mir einfach über den Weg gelaufen. Nie habe ich mir einen Eindruck aufgezeichnet, denn ich denke, dass das, was ich vergesse, wahrscheinlich für nichts anderes steht.“

„Alle Details dieses Buches sind daher real. Nur die Gliederung ist ausgedacht. Die Gliederung wollte ich nicht aus der Wirklichkeit nehmen.“

 

"Als Sedmikráska zum ersten Mal gedruckt wurde, sagte mir Otakar Březina vor Jakub Deml: Ich danke Ihnen für Ihre Sedmikráska. Dies ist nicht ein Dienstmädchen, es ist eine Königin. Sie haben die Liebe selbst eingefangen. Das ist Ihre Mission, damit unser Volk neue Liebe und neues Lieben lernt und damit uns die Schönheit unserer Mädchen und Frauen bewahrt bleibt.“ (Otakar Březina war einer der bedeutendsten tschechischen Dichter.)

 

Durych geht in seinem Büchlein auch auf die Frage ein, wie es kommt, dass der Liebhaber in jedem Kapitel einem Mädchen begegnet, in das er sich sofort verliebt, aber nicht erkennt, dass dieses Mädchen immer ein und dasselbe ist.

„Ich habe gehört, dass das ein dummer oder kläglicher Mann sein muss, der seine Geliebte nie und nirgends erkennt. Das ist aber nur teilweise richtig, und ich würde sagen, dass mir jeder Liebhaber leid tut, der sofort bei der ersten Begegnung so genau schaut, dass es keine Unsicherheit und kein Geheimnis mehr gibt; dies erfordert lediglich einen nüchternen Blick, der den Mann gegen den Zauber der Schläfrigkeit schützt.“

„Ich weiß, dass es viele solche Fälle gibt, in denen wir eine einmal gesehene Person überall und in jeder Situation erkennen würden, vielleicht sogar am anderen Ende der Welt. Aber ein großer Teil der Menschen unterliegt Täuschungen und Illusionen und überdies auch irgendwelchen Mechanismen. Wenn wir in einer abgelegenen ländlichen Stadt vielleicht jemandem begegnen, den wir in Prag kennengelernt haben, denken wir, dass er ihm ähnlich sieht, aber dass das sicherlich nicht er sein kann. Aber vielleicht noch an der gleichen Stelle, wenn wir gewöhnt sind, jemanden auf einer bestimmten Straße gehen zu sehen, und ihm anderswo begegnen, oder vielleicht in der gleichen Straße, aber zu einer anderen Zeit als gewöhnt, kann uns das so verwirren, dass wir seine Identität bezweifeln. Und wenn uns eine solche Person bei der ersten Begegnung in eine starke und gleichzeitig feine emotionale Erregung bringt, so kommt noch die Wirksamkeit des Zaubers und die Verwirrung der Blendung dazu. In der Blendung nehmen wir nicht einmal materielle Tatsachen wahr, wir spannen das Gedächtnis nicht an und und beachten keine Merkmale der Identität, sondern vielmehr nehmen wir unser eigenes Zittern wahr. Denn jeder Mensch, der ergriffen ist, ist in einem gewissen Maß der Herrschaft über sich selbst beraubt, fürchtet sich, zaudert und stottert. Darum heißt es, dass die Liebe den Menschen zum Narren macht. Und ein Versteckspiel treibt der Mädchen Lust und Laune nicht nur aus Absicht um, sondern die Natur selbst unterstützt und steuert dieses Versteckspiel. Etwas anderes ist es, sich in ein Mädchen zu verlieben, das im selben Haus oder in der selben Straße lebt oder arbeitet, das man oft sehen oder dem man folgen kann, als in ein völlig neues und unbekanntes Mädchen zur Zeit eines kurzen und zufälligen Aufenthalts. Darum erfolgt die Begegnung des Liebhabers mit Sedmikráska immer nach langer Zeit an einem ganz anderen Ort oder in einer völlig anderen Situation und gegen alle Erwartung; und auch ihre Kleidung und Beschäftigung ist immer geändert.“ …

„Auch den Liebhaber muss ich ein wenig verteidigen. Im ersten Kapitel verhält er sich von Anfang an bescheiden und schüchtern, aber dann geht es recht zügig, er führt sie fest, auch als sie ihm ausriss, und gewinnt ihr Herz vollständig. Zu dieser Zeit ist er noch frei, es ist seine erste Liebe, er ist noch keiner anderen etwas schuldig. Aber im zweiten Kapitel hat er diese Freiheit und Sicherheit nicht mehr. Als er zum ersten Mal seiner Geliebten in ihrer zweiten Form begegnet und fühlt, wie sie ihn anschaut, versucht er nur verstohlen hinzusehen und das gelingt ihm nur insoweit, dass er nur ihre Beine und Schürze sieht, weiter reicht sein Mut nicht. Und dann sieht er sie immer an wie ein verbotenes Wesen, als ob er Untreue beginge gegenüber der Frau, die er verloren hat und die zu suchen er sich verpflichtet fühlt.“

 

„Die Geschichte Sedmikráskas entnahm ich also nicht fertig aus der Wirklichkeit, sondern ich arbeitete sie aus der reichen Vielfalt der Wirklichkeit wie eine Mosaikarbeit heraus, der ich allerdings jene Form und bleibende Gültigkeit zu geben versuchte, die dem wirklichen Leben entspricht. Sedmikráska, das Gänseblümchen setzt sich daher aus vielen Mädchen zusammen, aber noch mehr glaube ich, und vielleicht nicht ganz zu Unrecht, dass in jedem Mädchen die ganze Sedmikráska ist und dass sie ein Spiegel aller ist. Von hier aus erkläre ich mir den Erfolg dieser Arbeit, denn sie fand gerade unter den Menschen und gerade in dem Sinn Gefallen, wie ich es mir wünschte.“

 

 

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